Doctor Sleep (German Edition)
korrespondieren.
Wenn die nur wüssten, wegen welchen Bösewichten ihre Tochter sich tatsächlich Sorgen machen musste.
Sie hatte Angst, war jedoch auch – da nun helllichter Tag war und keine schöne Irre mit Zylinder sie durchs Fenster hindurch anstarrte – auf prickelnde Weise aufgeregt. Es war wie in einem jener fantastischen Romane, in denen es um Liebe und Horror ging und die Mrs. Robinson von der Schulbücherei verächtlich als »Teenager-Pornos« bezeichnete. Die Mädchen in diesen Büchern trieben sich mit Werwölfen, Vampiren, ja sogar Zombies herum, ohne jedoch selbst dazu zu werden. Meistens jedenfalls.
Aufregend war auch, dass ein erwachsener Mann sich für sie einsetzte, und es schadete nicht, dass der gut aussah, auf eine leicht ungepflegte Weise, die sie irgendwie an Jax aus Sons of Anarchy erinnerte, eine Fernsehserie, die sie und Em sich heimlich auf Ems Computer anschauten.
Sie verschob Onkel Dans E-Mail nicht einfach in den Papierkorb, sondern löschte sie vollständig, was ihre Freundin Emma als Radioaktive-Jungs-Ordner bezeichnete. ( Als wenn du irgendwelche Jungs hättest, Em, dachte Abra spöttisch.) Dann fuhr sie den Computer herunter und klappte den Deckel zu. Sie schickte keine E-Mail zurück. Das war nicht nötig. Sie musste nur die Augen schließen.
Zipp, zapp.
Nachdem die Nachricht versandt war, stellte Abra sich unter die Dusche.
6
Als Dan mit seinem Morgenkaffee zurückkam, stand eine neue Nachricht auf der Tafel.
Du kannst es Dr. John sagen, aber NICHT MEINEN ELTERN .
Nein. Ihren Eltern nicht. Zumindest fürs Erste nicht. Aber die würden zweifellos herausbekommen, dass irgendetwas im Gange war, und zwar wahrscheinlich eher früher als später. Diese Brücke würde er später überschreiten (oder abbrechen), wenn es so weit war. Momentan hatte er eine Menge anderer Dinge zu erledigen, angefangen mit einem Anruf.
Ein Kind hob ab, und als er nach Rebecca fragte, fiel das Telefon mit einem Plumps zu Boden, und er hörte ein sich entfernendes Rufen: »Gramma! Es ist für dich!« Einige Sekunden später war Rebecca Clausen am Apparat.
»Tag, Becka, hier spricht Dan Torrance.«
» Wenn es um Mrs. Ouellette geht, ich hab heute Morgen eine Mail von …«
»Nein, darum geht es nicht. Ich möchte mir eine Weile freinehmen.«
»Doctor Sleep will sich freinehmen? Kaum zu glauben. Letztes Frühjahr musste ich Sie praktisch vor die Tür setzen, damit Sie Ihren Urlaub nehmen, und trotzdem sind Sie ein- oder zweimal am Tag reingekommen. Geht es um eine Familienangelegenheit?«
Dan, der an Abras Relativitätstheorie dachte, bejahte die Frage.
Kapitel zehn
FIGÜRCHEN AUS GLAS
1
David Stone stand im Bademantel in der Küche und schlug Eier in eine Schüssel, als das Telefon läutete. Im oberen Stockwerk donnerte die Dusche. Wenn Abra ihre übliche Sonntagmorgenroutine befolgte, würde es weiterdonnern, bis ihr das warme Wasser ausging.
Er warf einen Blick auf das Display. Die Vorwahl war die von Boston, aber die folgende Nummer kannte er nicht. Jedenfalls war es nicht der Festnetzanschluss in der Wohnung seiner Schwiegergroßmutter. »Hallo?«
»Ach, David, ich bin so froh, dass ich dich erwische!« Es war Lucy, die völlig erschöpft klang.
» Wo bist du? Warum rufst du nicht von deinem Handy aus an?«
»Im Krankenhaus, an einem Münztelefon. Handys darf man hier nicht benutzen, es hängen überall Schilder.«
»Ist was mit Momo? Oder mit dir?«
»Mir geht’s gut. Was Momo angeht, deren Zustand ist stabil … jetzt jedenfalls … aber eine Weile war es ziemlich schlimm.« Ein Schlucken. »Das ist es immer noch.« Dann brach Lucy zusammen. Sie weinte nicht einfach, sie schluchzte, als wäre in ihr ein Damm gebrochen.
David wartete. Er war froh, dass Abra unter der Dusche stand, und hoffte, dass das warme Wasser noch sehr lange reichte. Das hörte sich wirklich übel an.
Endlich war Lucy wieder in der Lage, etwas zu sagen. »Diesmal hat sie sich den Arm gebrochen.«
»Oh. Aha. Ist das alles?«
»Nein, das ist nicht alles! « Sie schrie ihn fast schon an, und zwar in diesem Wieso-sind-Männer-nur-so-dämlich-Ton, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte und den er ihrer italienischen Herkunft zuschrieb, ohne je darüber nachzudenken, dass er gelegentlich vielleicht tatsächlich ziemlich dämlich war.
Er atmete durch, um sich zu beruhigen. »Erzähl’s mir, Schatz.«
Das tat sie, wenngleich sie zweimal wieder in Schluchzen ausbrach und David eine Weile warten musste.
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