Doctor Sleep (German Edition)
der Wanne gelegen hatte, bis der Hausmeister es sattgehabt hatte zu klopfen, seinen Generalschlüssel gezückt und sie entdeckt hatte. Das konnte Dan zwar eigentlich gar nicht wissen, was Emil Kemmer – wäre er da gewesen – nachdrücklich bestätigt hätte, aber er wusste es trotzdem. Er wusste es. Warum sollte er sich also die Mühe machen?
Vielleicht geht diese übersteigerte Wahrnehmung vorüber. Vielleicht ist es nur eine Phase, ein übersinnliches Pendant von Delirium tremens. Vielleicht musst du dir nur noch etwas Zeit lassen …
Aber die Zeit war veränderlich. Das war etwas, was nur Säufer und Junkies begriffen. Wenn man nicht einschlafen konnte, wenn man wegen dem, was man womöglich sah, Angst hatte, sich umzublicken, dann dehnte die Zeit sich in die Länge und bekam scharfe Zähne.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Kassierer, und Dan wusste
(verfluchtes Shining verfluchtes Ding)
dass er ihn nervös machte. Kein Wunder. Mit seinem verstrubbelten Kopf, seinen dunklen Augenringen und seinen ruckartigen, unsicheren Bewegungen sah er wahrscheinlich wie ein Meth-Süchtiger aus, der überlegte, ob er seine treue Pistole ziehen und den Gesamtinhalt der Kasse verlangen sollte.
»Nein«, sagte Dan. »Ich hab nur gerade gemerkt, dass ich mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen habe.«
Er stellte die grünen Flaschen ins Kühlregal zurück. Als er die Tür zumachte, sprachen sie so freundlich zu ihm, wie zwei Freunde zueinander sprachen: Bis bald, Danny.
16
Billy Freeman erwartete ihn, bis zu den Augenbrauen eingepackt. Er streckte ihm eine altmodische Skimütze hin, auf die vorn der Schriftzug ANNISTON CYCLONES gestickt war.
» Wer zum Teufel sind die Anniston Cyclones?«, fragte Dan.
»Anniston liegt zwanzig Meilen nördlich von hier. Wenn’s um Football, Basketball und Baseball geht, sind die unsere Erzrivalen. Falls dich jemand mit dem Ding sieht, kriegst du wahrscheinlich einen Schneeball an den Schädel, aber es ist die einzige Mütze, die ich habe.«
Dan setzte sie auf. »Na, dann: Auf geht’s, Cyclones!«
»Genau, immer ran an die Braut!« Billy musterte ihn. »Geht’s dir nicht gut, Danno?«
»Hab heute Nacht nicht viel geschlafen.«
»Kein Wunder. Der verfluchte Wind hat richtig gekreischt, was? Hat sich angehört wie meine Ex, wenn ich gemeint hab, am Samstagabend könnten wir mal wieder miteinander kuscheln. Na, bereit, ans Werk zu gehen?«
»Auf jeden Fall.«
»Gut. Legen wir los. Das wird ein verflucht harter Tag.«
17
Es war tatsächlich ein verflucht harter Tag, aber gegen Mittag war die Sonne herausgekommen, und die Temperatur war wieder auf über zehn Grad Celsius gestiegen. Teenytown war vom Rauschen hundert kleiner Wasserfälle erfüllt, während der Schnee schmolz. Dans Laune stieg mit der Temperatur, und er erwischte sich sogar beim Singen (»Young man! I was once in your shoes!«), während er auf dem Hof des kleinen Einkaufszentrums neben dem Stadtpark hinter seiner Schneefräse hermarschierte. In der sanften Brise, die nichts mehr mit dem kreischenden Wind der vergangenen Nacht gemein hatte, flatterte über ihm ein Banner mit der Aufschrift FRÜHLINGSSCHNÄPPCHEN OHNE ENDE ZU TEENYTOWN-PREISEN!
Er hatte keinerlei Visionen.
Nachdem sie den Arbeitsschluss gestempelt hatten, lud er Billy in den Chuck Wagon ein und bestellte Steaks. Billy wollte Bier spendieren, aber Dan schüttelte den Kopf. »Ich lasse die Finger vom Alkohol. Sobald ich damit anfange, fällt es mir nämlich manchmal schwer, wieder aufzuhören.«
»Darüber könntest du dich mit Kingsley unterhalten«, sagte Billy. »Der ist deshalb vor etwa fünfzehn Jahren geschieden worden. Inzwischen ist er darüber hinweg, aber seine Tochter redet immer noch nicht mit ihm.«
Zum Essen tranken sie Kaffee. Massenhaft.
Müde, satt vom warmen Essen und froh, nüchtern zu sein, kehrte Dan in seine Höhle in der Eliot Street zurück. In seinem Zimmer stand kein Fernseher, aber er hatte die zweite Hälfte des Krimis vor sich und versank einige Stunden darin. Dabei lauschte er auf den Wind, der jedoch nicht anschwoll. Er hatte den Eindruck, dass der Sturm der vergangenen Nacht das letzte Aufbäumen des Winters gewesen war. Was ihm ganz recht war. Um zehn legte er sich ins Bett und schlief fast augenblicklich ein. An seinen morgendlichen Besuch im Supermarkt erinnerte er sich nur noch verschwommen, so als wäre er im Fieberwahn dorthin gegangen und das Fieber wäre nun vorüber.
18
In den frühen Morgenstunden
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