Doctor Sleep (German Edition)
Es war Deenies kleiner Sohn Tommy. Die rechte Schädelseite war eingeschlagen. Durch das blonde, mit Blut befleckte Haar ragten Knochensplitter. Graue, schuppige Schmiere – Gehirn – trocknete auf der Wange. Mit einer so fürchterlichen Wunde konnte er nicht mehr am Leben sein, aber er war es. Mit seiner Seesternhand griff er nach Dan.
»Zucka«, sagte er.
Wieder setzten die Schreie ein, doch diesmal war es nicht Deenie, und es war auch nicht der Wind.
Diesmal war Dan es selbst.
12
Als er zum zweiten Mal erwachte – diesmal wachte er wirklich auf –, schrie er jedoch nicht. Tief in seiner Brust breitete sich nur ein leises Knurren aus. Keuchend setzte er sich auf, die Decke um die Taille geschlungen. Außer ihm war niemand im Bett, aber der Traum hatte sich noch nicht aufgelöst, und zu sehen, dass niemand da war, reichte nicht aus. Er schlug die Decke zurück, aber das reichte immer noch nicht aus. Er strich mit den Händen über das Laken und suchte nach verbliebener Wärme oder einer Vertiefung, die kleine Hüften und Pobacken hätten hinterlassen können. Nichts. Natürlich nicht. Also spähte er unters Bett, wo er aber nur seine geliehenen Stiefel sah.
Der Wind wehte jetzt weniger stark. Noch war der Sturm nicht vorüber, aber er nahm allmählich ab.
Dan ging aufs Badezimmer zu, fuhr jedoch unterwegs herum und blickte zurück, als erwartete er, jemand zu überraschen. Da stand nur das Bett, an dessen Fußende die Decke auf dem Boden lag. Er knipste das Licht über dem Waschbecken an, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel, wo er tiefe Atemzüge machte, einen nach dem anderen. Er überlegte, ob er aufstehen und sich eine Zigarette aus der Packung holen sollte, die neben seinem Buch auf dem einzigen kleinen Tisch des Zimmers lag, aber seine Beine fühlten sich wie aus Gummi an, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn tragen konnten. Jetzt bestimmt noch nicht. Daher blieb er sitzen. Er konnte das Bett sehen, und das Bett war leer. Das ganze Zimmer war leer. Keinerlei Problem mehr.
Nur … es fühlte sich nicht leer an . Noch nicht. Wenn es so weit war, würde er wohl wieder ins Bett gehen. Aber nicht, um einzuschlafen. Für diese Nacht war es mit dem Schlafen vorbei.
13
In Tulsa hatte Dan sieben Jahre zuvor in einem Hospiz als Pfleger gearbeitet und sich dabei mit einem alten Psychiater namens Emil Kemmer angefreundet, der an Leberkrebs im Endstadium litt. Als Kemmer eines Tages (nicht sehr diskret) von einigen interessanten Fällen aus seiner Praxis erzählt hatte, hatte Dan gestanden, dass er seit seiner Kindheit mit etwas kämpfe, was er als doppeltes Träumen bezeichne. Ob Kemmer mit diesem Phänomen vertraut sei? Ob es einen Namen dafür gebe?
In seinen besten Jahren war Kemmer eine imposante Erscheinung gewesen – davon zeugte das alte Schwarz-Weiß-Foto von seiner Hochzeit, das auf seinem Nachttisch stand –, aber Krebs war nur einmal das ultimative Diätprogramm, und am Tag dieses Gesprächs hatte er etwa halb so viele Kilo Gewicht am Leib gehabt wie Jahre auf dem Buckel, und er war einundneunzig. Sein Verstand war jedoch immer noch scharf, und während Dan nun auf dem Toilettendeckel saß und dem nachlassenden Sturm draußen lauschte, erinnerte er sich an das listige Lächeln des alten Mannes.
»Normalerweise werde ich für meine Diagnosen bezahlt, Daniel«, hatte der mit seinem starken deutschen Akzent gesagt.
Dan hatte gegrinst. »Dann hab ich wohl Pech gehabt.«
»Mal sehen.« Kemmer betrachtete Dan. Seine Augen waren strahlend blau. Obwohl Dan wusste, dass es ausgesprochen unfair war, konnte er nicht umhin, sich diese Augen unter einem Stahlhelm der Waffen- SS vorzustellen. »In diesem Haus des Todes geht das Gerücht, Sie hätten die Gabe, den Leuten beim Sterben helfen zu können. Stimmt das?«
»Manchmal«, sagte Dan vorsichtig. »Nicht immer.« Die Wahrheit lautete: Fast immer.
» Werden Sie auch mir helfen, wenn es so weit ist?«
» Wenn ich kann, natürlich.«
»Gut.« Kemmer setzte sich auf, ein mühevoller und schmerzhafter Vorgang, doch als Dan ihm helfen wollte, wehrte er ihn mit einer Handbewegung ab. » Was Sie als doppeltes Träumen bezeichnen, ist in der Psychiatrie wohlbekannt. Von besonderem Interesse ist es für die Jungianer, die es falsches Erwachen nennen. Der erste Traum ist üblicherweise ein luzider Traum, das heißt, der Träumer weiß, dass er träumt …«
»Ja!«, rief Dan. »Aber der zweite
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