Doktor Faustus
gekommen. Ihn länger zu verschieben, hätte geheißen, ihre Rechte zu schmälern, und das Telegramm, das ihr Heranreisen meldete, ließ denn auch keinen Tag auf sich warten. Man verständigte, wie ich sagte, Adrian von ihrer bevorstehenden Ankunft, übrigens ohne Gewißheit zu erlangen, daß er die Nachricht aufgefaßt habe. Eine Stunde später aber, als man ihn schlummernd wähnte, entwich er unversehens aus dem Hause und wurde von Gereon und einem Knecht erst eingeholt, als er am Klammerweiher sich seiner Oberkleider entledigt hatte und schon bis zum Hals in das so rasch sich vertiefende Gewässer {735} hineingegangen war. Er war im Begriffe, darin zu verschwinden, als der Knecht sich ihm nachwarf und ihn ans Ufer brachte. Während man ihn nach dem Hof zurückführte, erging er sich wiederholt über die Kälte des Weihers und fügte hinzu, es sei sehr schwer, sich in einem Wasser zu ertränken, in dem man oft gebadet und geschwommen habe. Er hatte das aber im Klammerweiher niemals, sondern nur in seinem heimischen Gegenstück, der Kuhmulde, als Knabe getan.
Nach meiner Ahnung, die fast der Gewißheit gleichkommt, stand hinter seinem vereitelten Fluchtversuch auch eine mystische Rettungsidee, die der älteren Theologie, namentlich dem frühen Protestantismus wohlvertraut war: die Annahme nämlich, daß Teufelsbeschwörer allenfalls ihre Seele zu retten vermöchten, indem sie »den Leib darangäben«. Wahrscheinlich handelte Adrian unter anderem nach diesem Gedanken, und ob man recht tat, ihn nicht zu Ende handeln zu lassen, weiß Gott allein. Nicht alles, was im Wahnsinn geschieht, ist darum durchaus zu verhindern, und die Pflicht zur Lebenserhaltung wurde hier kaum in irgend eines Menschen Interesse erfüllt, als in dem der Mutter, – da eine solche es zweifellos vorzieht, einen unmündigen Sohn wieder zu finden, als einen toten.
Sie kam, Jonathan Leverkühns braunäugige Witwe im weißen und straffen Scheitel, entschlossen, ihr verirrtes Kind in die Kindheit zurückzuholen. Beim Wiedersehen lag Adrian lange bebend an der Brust der Frau, die er Mutter und Du nannte, da er die andere hier, die sich fernhielt, Mutter und Sie genannt, und sie sprach ihm zu mit ihrer immer noch melodischen Stimme, der sie ihr Leben lang das Singen verwehrt hatte. Während der Reise aber, nach Norden ins Mitteldeutsche, auf welcher glücklicherweise der Adrian bekannte Wärter aus München die beiden begleitete, kam es ohne erkennbaren Anlaß zu einem Zornesausbruch des Sohnes gegen die Mutter, einem von niemandem erwarteten Wutanfall, der Frau Leverkühn {736} zwang, den Rest der Fahrt, fast die Hälfte, in einem anderen Abteil zurückzulegen und den Kranken mit dem Wärter allein zu lassen.
Es war ein einmaliges Vorkommnis. Niemals hat Ähnliches sich wiederholt. Schon als sie sich ihm bei der Ankunft in Weißenfels wieder näherte, schloß er sich ihr unter Kundgebungen der Liebe und Freude an, folgte ihr dann daheim auf Schritt und Tritt und war ihr, die sich völlig und mit einer Hingabe, deren nur eine Mutter fähig ist, seiner Pflege widmete, das lenksamste Kind. In Haus Buchel, wo ebenfalls seit Jahren eine Schwiegertochter waltete und schon zwei Enkel aufwuchsen, bewohnte er dasselbe Zimmer im Oberstock, das er als Knabe mit seinem älteren Bruder geteilt hatte, und wieder war es nun, statt der Ulme, die alte Linde, deren Zweige unter seinem Fenster sich regten, und für deren wundervollen Blütenduft, in der Jahreszeit seiner Geburt, er Zeichen von Empfänglichkeit gab. Viel saß er auch, seinem Hindämmern von den Hofleuten bereits mit Seelenruhe überlassen, im Schatten des Baumes auf der Rundbank, dort, wo einst die plärrende Stall-Hanne Kanons mit uns Kindern geübt hatte. Für seine körperliche Bewegung sorgte die Mutter, indem sie, ihren Arm in seinem, Spaziergänge durch die stille Landschaft mit ihm machte. Begegnenden pflegte er, ungehindert von ihr, die Hand zu reichen, wobei der so Begrüßte und Frau Leverkühn einander nachsichtig zunickten.
Für meine Person sah ich den teueren Mann wieder im Jahre 1935, als ich, schon emeritiert, zu seinem fünfzigsten Geburtstag als trauernder Gratulant mich auf dem Buchelhof einfand. Die Linde blühte, er saß darunter. Ich gestehe, mir zitterten die Knie, als ich, einen Blumenstrauß in der Hand, an der Seite seiner Mutter zu ihm trat. Er schien mir kleiner geworden, was an der schief gebückten Haltung liegen mochte, aus der ein verschmälertes Gesicht, ein Ecce
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