Doktor Pascal - 20
ein hübsches Lächeln.
»Wie, du bist es, Großmutter!« rief Clotilde und ging ihr entgegen. »Aber bei dieser furchtbaren Sonne ist es ja so heiß, daß man schier gebraten wird!«
Félicité küßte sie auf die Stirn und fing an zu lachen.
»Oh, die Sonne, das ist meine Freundin!«
Mit raschen kleinen Schritten trippelte sie zum Fenster und drehte am Riegel eines der Läden.
»Macht doch ein bißchen auf. Es ist zu traurig, so im Finstern zu leben … Bei mir lasse ich die Sonne herein.«
Durch den Spalt sprühte ein Strahl glühenden Lichts, eine Woge tanzender Glut herein. Und unter dem Himmel, dessen Blau bei dieser Feuersbrunst ins Violette schillerte, erblickte man die weite verbrannte Flur, gleichsam eingeschlafen und tot, vernichtet in diesem Glutofen, während rechts über den rosa Dächern der Glockenturm von SaintSaturnin mit seinen Dachgraten in der Farbe ausgeblichenen Gebeins wie vergoldet in der blendenden Helligkeit emporragte.
»Ja«, fuhr Félicité fort, »ich möchte heute noch nach Les Tulettes gehen und wollte nur wissen, ob Charles bei euch ist, damit ich ihn mitnehmen kann … Aber er ist nicht hier, wie ich sehe. Dann eben ein andermal.«
Und während sie diesen Vorwand für ihren Besuch vorbrachte, schweiften ihre Frettchenaugen durch den ganzen Raum. Sie beharrte auch nicht auf diesem Thema, sondern sprach gleich von ihrem Sohn Pascal, als sie das rhythmische Geräusch des Stößels vernahm, das im Nebenzimmer nicht aufgehört hatte.
»Ach, er ist immer noch in seiner Teufelsküche! … Stört ihn nur nicht, ich habe ihm nichts zu sagen.«
Martine, die sich wieder über ihren Sessel hergemacht hatte, schüttelte den Kopf, um kundzutun, daß sie auch keine Lust habe, ihren Herrn zu stören; und es trat wiederum Schweigen ein, während Clotilde ihre mit Pastellfarbe befleckten Finger an einem Lappen abwischte und Félicité von neuem mit kleinen Schritten und forschender Miene umherwanderte.
Seit bald zwei Jahren war die alte Frau Rougon Witwe. Ihr Mann, der so dick geworden war, daß er sich nicht mehr rühren konnte, war in der Nacht des 3. September 1870, nachdem er von der Katastrophe von Sedan4 erfahren hatte, gestorben, erstickt an einer Verdauungsstörung. Der Sturz des Regimes, zu dessen Gründern zu gehören er sich schmeichelte, schien ihn wie ein Blitz erschlagen zu haben. Deshalb tat Félicité so, als befaßte sie sich nicht mehr mit Politik, und lebte hinfort wie eine Königin, die dem Thron entsagt hat. Jedermann wußte, daß die Rougons im Jahre 1851 Plassans vor der Anarchie gerettet hatten, indem sie dem Staatsstreich vom 2. Dezember5 hier zum Triumph verhalfen, und daß sie einige Jahre später die Stadt von neuem erobert und den legitimistischen6 und republikanischen Kandidaten abgewonnen hatten, um sie einem bonapartistischen7 Abgeordneten zu geben. Bis zum Kriege8 war das Kaiserreich9 in Plassans allmächtig geblieben und mit so viel Beifall bedacht worden, daß es bei der Volksabstimmung10 eine erdrückende Mehrheit erhielt. Aber seit den Niederlagen war die Stadt republikanisch geworden. Das SaintMarcViertel war wieder in seine heimlichen royalistischen11 Intrigen zurückgesunken, während die Altstadt und die Neustadt einen liberalen, leicht orléanistisch12 gefärbten Vertreter in die Kammer geschickt hatten, der bereit war, sich auf die Seite der Republik zu schlagen, falls sie triumphieren sollte. Und deshalb leistete Félicité, die eine sehr intelligente Frau war, Verzicht und willigte ein, nur noch die entthronte Königin eines gestürzten Regimes zu sein.
Aber das war immer noch eine hohe Stellung, umgeben von einer ganzen schwermütigen Poesie. Achtzehn Jahre lang hatte sie geherrscht. Die Sage von ihren beiden Salons, dem gelben Salon, in dem der Staatsstreich herangereift war, und später dem grünen Salon, dem neutralen Gebiet, auf dem sich die Eroberung von Plassans vollendet hatte, wurde immer schöner, je weiter die entschwundenen Zeiten zurücklagen. Frau Rougon war übrigens sehr reich. Außerdem fand man, daß sie sich sehr würdevoll verhalte nach ihrem Sturz, weil sie weder Bedauern noch eine Klage äußerte, sie, die mit ihren achtzig Jahren eine so lange Folge rasender Begierden, abscheulicher Machenschaften und unmäßiger Sättigung mit sich herumtrug, daß sie dadurch erhaben geworden war. Ihre einzige Freude war es nun, in Frieden ihr großes Vermögen und ihr vergangenes Königtum zu genießen, und sie hatte nur noch eine
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