Dolch und Münze (01): Das Drachenschwert (German Edition)
dorthin zu fliehen. Aber er war nie dort gewesen. Die Markierungen auf den Karten könnten Lügen sein. Genauso gut könnte es auch keine Drachen, kein Imperium, keinen großen Krieg gegeben haben. Er hatte nie das Meer gesehen; vielleicht gab es so etwas gar nicht. Er wusste nur, was er selbst gesehen, gehört und gespürt hatte.
Er wusste nichts .
Aus einem gewalttätigen Drang heraus grub er die Zähne ins Fleisch seiner Hand. Blut quoll hervor, und er fing es im Handteller auf. Im schwachen Licht des Feuers wirkte es beinahe schwarz. Schwarz mit kleinen, dunkleren Knötchen. Eines der kleinen Knötchen entfaltete winzige Beine. Ein weiteres tat es ihm nach. Er beobachtete sie: Die Mittler der Göttin, an die er nicht mehr glaubte. Vorsichtig, sachte neigte er die Hand über der kleinen Flamme. Eine der Spinnen fiel hinein, ihre Beine, dünn wie Haare, schrumpften sofort zusammen.
»Tja«, sagte er. »Ihr könnt sterben. Das weiß ich.«
Die Berge schienen einfach nicht aufzuhören, jeder Anstieg eine neue Gefahr, und in jedem Tal wimmelte es von Bedrohungen. Er umging die kleinen Dörfer, wagte sich nur näher heran, um einen Schluck aus den steinernen Zisternen zu stehlen. Er aß Eidechsen und die kleinen, fleischfarbenen Nüsse der Buschkiefer. Er wich den Stellen aus, wo sich auf dem Boden Spuren von breiten Tatzen mit Klauen zeigten. Eines Nachts fand er einen Kreis aus stehenden Säulen, unter denen eine kleine Kammer war, die ihm einen Unterschlupf zu bieten schien, um seine Kraft wiederzugewinnen. Aber sein Schlaf wurde dort von Träumen gestört, die so gewalttätig und fremd waren, dass er stattdessen weiterzog.
Er verlor Gewicht, und das Leder seines Gürtels sackte tief über die Taille hinab. Die Sohlen seiner Sandalen wurden dünner, und sein Feuerbogen nutzte sich rasch ab. Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Tag um Tag um Tag ging vorbei. Jeden Morgen dachte er: Dies ist vermutlich der letzte Tag meines Lebens. Nur vermutlich.
Vermutlich war immer genug. Und dann, eines späten Vormittags, hievte er sich auf den Gipfel eines mit Felsbrocken übersäten Hügels, und es gab keinen weiteren mehr, der darauf folgte. Die weiten westlichen Ebenen breiteten sich vor ihm aus, ein Fluss glänzte in seinem Umhang aus grünem Gras und Bäumen. Die Aussicht täuschte. Er ging davon aus, dass er immer noch zwei Tage Fußweg vor sich hatte, ehe er ihn erreichte. Dennoch setzte er sich auf einen breiten, rauen Stein, blickte über die Welt hinaus und gab sich beinahe bis zum Mittag den Tränen hin.
Als er sich dem Fluss näherte, spürte er eine neue Furcht, die an seinem Inneren nagte. An dem Tag, an dem er vor Wochen über die Mauer des Tempels entwischt und geflohen war, war sein Plan, in einer Stadt unterzutauchen, eine ferne Sorge gewesen. Nun sah er den Rauch von hunderten Kochfeuern zwischen den Bäumen aufsteigen. Die Spuren wilder Tiere waren rar. Zweimal sah er Männer in der Ferne auf riesigen Pferden reiten. Die staubigen Fetzen seiner Robe, die Überreste seiner Sandalen und der Gestank seiner ungewaschenen Haut erinnerten ihn daran, dass dies so schwierig und gefährlich sein würde wie alles, was er bisher getan hatte. Wie würden die Männer und Frauen aus der Keshet einen wilden Mann aus den Bergen aufnehmen? Würden sie ihn kurzerhand niedermetzeln?
Er umkreiste die Stadt am Fluss, von der schieren Größe des Ortes überwältigt. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Die langen Holzgebäude mit ihren strohgedeckten Dächern hätten gut und gerne tausend Menschen Unterkunft geboten. Die Straßen waren mit Steinen gepflastert. Er hielt sich wie ein Dieb im Unterholz, um zu beobachten.
Es war der Anblick einer Yemmu, der ihm Mut verlieh. Sie und sein Hunger. Am Rande der Stadt, wo die letzten Häuser zwischen Straße und Fluss lagen, arbeitete sie in ihrem Garten. Sie war eineinhalb mal so groß wie er, die Schultern breit wie ein Bulle. Ihre Hauer bogen sich aus dem Kiefer nach oben, bis es schien, als laufe sie Gefahr, sich die eigene Wange zu durchbohren, wenn sie lachte. Ihre Brüste hingen weit über einem Bauerngürtel, der sich nicht so sehr von jenen unterschied, die seine Mutter und Schwester getragen hatten, nur aus dreimal so viel Stoff und Leder.
Sie war der erste Mensch in seinem Leben, der kein Erstgeborener war. Der erste echte Beweis, dass die dreizehn Rassen der Menschheit wirklich existierten. Verborgen hinter den Büschen spähte er zu ihr hinaus, während sie mit ihren
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