Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
winken!”
Aber der Zug fuhr bereits. Evelyn setzte sich und heulte. “Hab mich gar nicht richtig verabschiedet”, jammerte sie.
“Nun, wie viele Male wolltest du es denn tun?” fragte Alice. “Du hast dich doch schon mindestens zwanzigmal verabschiedet.”
Fräulein Pott betrachtete Evelyn. Sie hatte sie bereits abgeschätzt: ein verwöhntes Einzelkind, selbstsüchtig und gewiß sehr schwer zu behandeln.
Sie sah auch die ruhige kleine Susanne Hoppe an. Ein merkwürdiges Mädchen, überlegte sie. Warum diese abweisende Miene? Ihre Mutter hatte sie nicht zur Bahn gebracht. Ob es Susanne etwas ausmachte? Fräulein Pott vermochte es nicht zu sagen.
Dann glitt ihr Blick zu Dolly hinüber. Dolly zu durchschauen war leicht. Sie verbarg niemals etwas und sie sagte, was sie dachte, wenn auch nicht so unverblümt wie Alice. Ein nettes, gerades, verläßliches Mädchen, diese Dolly Rieder, sagte sich Fräulein Pott. Und dumm scheint sie auch nicht zu sein.
Die Mädchen fingen zu erzählen an.
“Wie ist es in Möwenfels?” fragte Dolly. “Ich habe eine Fotografie gesehen. Es scheint furchtbar groß zu sein.”
“Das ist es auch. Und es hat den herrlichsten Blick über das Meer”, sagte Alice. “Das ganze Gebäude steht auf einer Klippe, weißt du. Ihr habt Glück, daß ihr im Nordturm seid – von dort aus ist die Aussicht am allerschönsten.”
“Hat jeder Turm seine eigenen Schulräume?” fragte Dolly. Alice schüttelte den Kopf.
“Nein. Die Mädchen aus allen vier Turmhäusern gehen in das gleiche Unterrichtsgebäude.
In jedem Turm gibt es ungefähr sechzig Mädchen. Die Sprecherin von unserem Turm ist Pamela. Dort drüben ist sie.”
Pamela, ein großes, ruhiges Mädchen, unterhielt sich gerade mit einer etwa gleichaltrigen Mitschülerin und mit Fräulein Pott. Die beiden schienen mit der Hausvorsteherin ein gutes Verhältnis zu haben. Ihr Gespräch war lebhaft und unbefangen.
Alice, ein anderes Mädchen namens Tessie, Susanne und Dolly unterhielten sich ebenfalls.
Evelyn aber saß da und machte ein düsteres Gesicht. Niemand beachtete sie, und so etwas war sie nicht gewöhnt. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus und sah aus den Augenwinkeln zu den anderen hin.
Alice bemerkte sofort, worauf Evelyn hinzielte. “Paß auf”, flüsterte sie Dolly zu, “gleich tut sie so, als wäre sie sterbenskrank! Wir nehmen einfach keine Notiz davon!”
“Kopf hoch, Evelyn”, sagte Fräulein Pott fröhlich, drehte sich aber sofort wieder um und unterhielt sich weiter mit den beiden großen Mädchen.
“Mir ist ganz schlecht”, verkündete Evelyn schließlich, fest entschlossen, das Mitleid der anderen zu erregen.
“Siehst aber gar nicht so aus”, sagte Alice. “Wenn mir schlecht ist, werde ich kreidebleich.”
Evelyn wiederholte beharrlich: “Mir ist wirklich schlecht. Was soll ich bloß tun?”
“Hier, warte, ich geb dir was”, sagte Alice und fischte eine Riesentüte aus ihrem Koffer.
“Ich habe einen Bruder, dem im Auto jedesmal schlecht wird, deshalb nimmt meine Mutter stets Papierbeutel mit. Ich finde es immer urkomisch, wenn Michael seine Nase hineinsteckt, der arme Kerl – wie ein Pferd in seinen Futtersack!”
Über Alices Geschichte mußten alle lachen. Evelyn natürlich nicht. Sie guckte ärgerlich drein. Dieses schreckliche Mädchen, das sich immer lustig über sie machte! Wie hieß sie noch gleich… Alice?
Dolly aber fand großen Gefallen an Alice. Wie gern würde sie sie zur Freundin haben!
Burg Möwenfels
Es war eine lange Fahrt. Doch der Zug hatte einen Speisewagen, und die Mädchen gingen abwechselnd dort hin und aßen zu Mittag. Das war eine angenehme Unterbrechung. Zuerst waren sie alle fröhlich und schwatzten, aber je länger die Reise sich hinzog, um so stiller wurden sie. Manche schliefen.
Die Ankunft in Möwenfels war aufregend. Die Schule lag ein paar Kilometer vom Bahnhof entfernt, und so standen dort große Omnibusse für die Mädchen bereit.
“Vorwärts”, sagte Alice und hakte Dolly unter. “Wenn wir uns beeilen, bekommen wir in einem Bus die vorderen Sitze neben dem
Fahrer. Schnell! Hast du deine Tasche?”
“Ich komme auch”, rief Evelyn. Aber die anderen waren längst fort,
ehe sie ihre Siebensachen zusammengesucht hatte.
Sie kletterten auf die Vordersitze. Die anderen Mädchen kamen zu
zweien und dreien aus dem Bahnhofsgebäude, und der einzige
Gepäckträger half den Fahrern, die vielen Koffer auf die Busse zu
laden.
“Können wir Möwenfels von hier aus sehen?” fragte
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