Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
danke dir, Pamela”, antwortete eine grauhaarige Dame, die an einem Schreibtisch saß, mit tiefer Stimme. Sie hatte ein ruhiges, faltenloses Gesicht, unwahrscheinlich blaue Augen und einen sehr energischen Mund.
Dolly war erschrocken vor dieser ruhigen Direktorin mit der tiefen Stimme. Hoffentlich muß ich mich niemals wegen schlechten Betragens bei ihr melden, dachte sie.
Die neuen Mädchen standen in einer Reihe vor der Direktorin. Frau Greiling sah alle genau an. Dolly merkte, daß sie rot wurde, und wußte gar nicht, warum. Ihre Knie zitterten ein bißchen. Wenn Frau Greiling sie bloß nichts fragte! Sie würde bestimmt kein einziges Wort antworten können.
Frau Greiling fragte jede nach ihrem Namen und sagte jeder ein paar freundliche Worte.
Dann hielt sie eine kleine Ansprache an alle:
“Eines Tages werdet ihr die Schule verlassen und in das Leben hinausgehen. Dann sollt ihr einen hellen Verstand und ein freundliches Herz mit euch nehmen. Ihr sollt euch als Menschen erweisen, die man liebt und denen man vertraut. Alles das werdet ihr in Möwenfels lernen können – vorausgesetzt, daß ihr es wollt. Ich halte es nicht für das Wichtigste, daß ihr Wissen erlangt und das Examen besteht, obwohl das gut ist. Unser Stolz sind die Schülerinnen, die gelernt haben, freundlich und hilfsbereit zu sein und feinfühlige Menschen zu werden, auf die in jeder Beziehung Verlaß ist. Wer das in den Jahren hier bei uns nicht lernt, aus dem wird niemals etwas Rechtes.”
Diese Worte waren so ernst und feierlich gesprochen, daß Dolly kaum zu atmen wagte.
Auch auf mich soll Möwenfels einmal stolz sein! dachte sie.
“Manchen von euch wird es leichtfallen, das zu lernen, anderen wird es schwer werden. Doch ob leicht, ob schwer – ihr werdet es lernen müssen, wenn ihr später glücklich sein und anderen Glück bringen wollt.”
Nach einer Pause sprach Frau Greiling in leichterem Ton weiter: “Ihr werdet von dieser Zeit in Möwenfels alle außerordentlich viel haben. Seht zu, daß ihr der Schule auch außerordentlich viel zurückgebt.”
“Jawohl!” entfuhr es Dolly überrascht und erfreut zugleich, vergaß sie ganz, daß sie geglaubt hatte, kein einziges Wort herausbringen zu können. “Genau das hat mein Vater mir zum Abschied gesagt, Frau Direktor!”
“Wirklich?” sagte Frau Greiling und sah das eifrige Mädchen lächelnd an. “Nun, wenn du Eltern hast, die ebenso denken, dann wirst du wohl eine der Glücklichen sein und die Dinge, von denen ich sprach, leicht erlernen können.”
Noch ein paar Worte, dann wurden die Mädchen entlassen. Nicht einmal Evelyn sagte etwas, so beeindruckt waren sie alle. Und was sie später – in den kommenden Jahren – in Möwenfels auch anstellen mochten, in diesem Augenblick wollte jede ihr Bestes geben.
Sie gingen zur Morgenandacht in die Aula und warteten, bis Frau Greiling erschien.
Bald klang ein Lied durch den großen Saal. Der erste Tag der Schulzeit hatte begonnen.
Dolly sang so laut und inbrünstig, wie sie konnte. Sie war glücklich und erregt. Sie konnte ihrer Mutter schon viel berichten, wenn sie ihr schrieb.
Fräulein Potts Klasse
Jeden Morgen kam die ganze Schule zur Andacht zusammen. Die Mädchen standen nach Klassen geordnet.
Dolly schaute um sich. Ihre Klasse schien sehr groß zu sein. Sicherlich fünfundzwanzig oder gar dreißig Mädchen! Fräulein Pott, die Hausvorsteherin vom Nordturm, war zugleich auch ihre Klassenlehrerin.
Dort stand Mademoiselle Dupont und sang laut. Die Dame eben ihr mußte wohl die zweite Französischlehrerin sein! .Aber wie anders sie aussah! Sie war groß und mager. Auch sie trug das Haar zu einem Knoten aufgesteckt.
Alice erklärte Dolly, wer die übrigen Lehrerinnen waren. “Dort drüben, das ist Fräulein Cornelius. Bei ihr haben wir Geschichte. Sie ist fürchterlich gescheit und schrecklich spöttisch, wenn jemand Geschichte nicht mag. Und das dort ist die Zeichenlehrerin, Fräulein Lind. Die ist ganz reizend. Mit ihr kommt man leicht aus.”
Hoffentlich habe ich viel mit Fräulein Lind zu tun, dachte Dolly. Sie ist jung und sympathisch. Mit ihrem kurzen roten Haar sieht sie richtig jugendlich und vergnügt aus.
“Ganz rechts, das ist der Musiklehrer, Herr Jung. Siehst du In? Er hat entweder sehr gute oder ganz schlechte Laune. Und das dort ist…”
Alice wollte noch weiter flüstern, da drehte sich Fräulein Pott zu ihnen um. Sofort wurde Alice still und vertiefte sich eifrig in ihr Gesangbuch. Fräulein Pott konnte es nicht
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