Dolly - 03 - Ein Pferd im Internat
sagte sie bekümmert. “Das schlimmste ist: Ich kann mich nicht einmal erinnern, daß ich es hatte! Gewöhnlich besinne ich mich wenigstens darauf, wie Mutter es mir gab. Aber diesmal weiß ich nicht einmal das!”
“Vor zehn Minuten hat es mir deine Mutter gegeben”, sagte die Hausmutter. “Nun geh schon, Irene, sonst verliere ich es vielleicht auch noch!”
Dann stellte Dolly Marilyn der Hausmutter vor. Die Hausmutter starrte die Neue an, als sähe sie das achte Weltwunder.
“Wer ist denn das?” fragte sie. “Marilyn Miller? Ja, du kommst in den Nordturm. Ist dies dein Gesundheitsattest? Evelyn, sie schläft in deinem Saal. Bring sie dorthin. Und macht euch zum Essen fertig!”
Dolly grinste Alice an, und Alice blinzelte voller Einverständnis zurück: Die Hausmutter würde morgen bestimmt nicht mehr so höflich zu der Neuen sein.
“Komm jetzt”, sagte Alice. “Wir wollen unser Nachtzeug auspacken. Übrigens habe ich dir furchtbar viel zu erzählen!”
Marilyn in Klasse 4
Am nächsten Tag eilten die Mädchen in ihre dritte Klasse, von der man den Schulhof überblicken und ganz hinten sogar das Meer sehen konnte.
“Marilyn kommt in die vierte Klasse”, sagte Jenny. “Dann ist sie also nicht mehr bei uns.”
“Das habe im mir gar nicht anders gedacht”, sagte Marilyn. “Ich bin doch viel älter als ihr.”
Jenny sah sie an. “Marilyn, ich möchte dir gern einen Rat geben. Fräulein Wagner, die Klassenlehrerin der Vierten, wird Anstoß nehmen an deinen Haaren und noch mehr an deinen bemalten Lippen. Es wäre klüger, du würdest dir eine andere Frisur machen und die Lippen abwischen, bevor sie dich sieht. Sonst wird sie dir schön die Meinung fiedeln!”
“Was denkst du dir eigentlich!” sagte Marilyn recht von oben herab. Sie war überzeugt, viel besser und sogar viel passender aufzutreten als diese einfachen kleinen Mädchen.
“Aber Marilyns Frisur sieht doch reizend aus”, erklärte Evelyn, die auch einmal mit lang herabwallendem Goldhaar hier angekommen war.
Keiner beachtete ihren Einwurf.
“Danke für deine Belehrung! Aber ich habe nicht die Absicht, mich in ein kleines Schulmädchen zu verwandeln”, sagte Marilyn hochnäsig. “Ich möchte nicht wie ihr aussehen. Schaut doch bloß in den Spiegel! Ich möchte euch einmal alle frisieren. Dann sähet ihr ein bißchen schicker aus!”
“Marilyn, ich möchte dir gern einen Rat geben ... ”
Diana, ein ausgesprochen hübsches Mädchen, lachte Marilyn einfach aus: “Niemand möchte solch eine Vogelscheuche sein wie du! Du solltest selbst in den Spiegel sehen!”
“Das habe ich schon getan, heute morgen!”
“Wenn du in Rom bist, mußt du dich wie eine Römerin benehmen”, sagte Jenny, die gern Spruchweisheiten anbrachte.
“Ich bin aber nicht in Rom”, gab Marilyn zurück.
“Nein”, schaltete sich Alice ein, “doch wenn dich Fräulein Wagner
sieht, wirst du dir brennend wünschen, dort zu sein – ganz weit weg. Jetzt beeile dich, daß du in deine Klasse kommst.
Fräulein Wagner wird in einer halben Minute dort sein. Ebenso Fräulein Peters hier. Sie würde bei deinem Anblick auch einen Anfall bekommen.”
Marilyn lachte und verschwand in Richtung ihres Klassenzimmers. Als sie noch an der Tür stand, kam Fräulein Wagner schon herangeeilt. Sie prallte beinahe mit Marilyn zusammen.
Fräulein Wagner hatte keine Ahnung, daß Marilyn zu ihrer Klasse gehörte, erwachsen, wie sie aussah. Sie blinzelte ein paarmal und versuchte sich zu erinnern, wer Marilyn war. Vielleicht eine von den neuen Hilfslehrerinnen?
“Ja…sagen Sie…Sie sind doch Fräulein…Fräulein.”
“Marilyn Miller”, sagte Marilyn und wunderte sich, daß die
Schülerinnen hier mit “Sie” angeredet wurden.
“Fräulein Miller”, sagte die Lehrerin, die immer noch keine Ahnung
hatte, mit wem sie es zu tun hatte. “Sie wollen mich sprechen,
Fräulein Miller?”
“Nein – das gerade nicht”, erwiderte Marilyn. “Mir wurde gesagt,
ich sollte in Ihre Klasse kommen – Klasse 4.”
“Was?” rief Fräulein Wagner mit schwacher Stimme. “Doch nicht
eine von meinen Schülerinnen?”
“Allerdings, Fräulein Wagner”, sagte Marilyn und wunderte sich,
wie merkwürdig sich die Lehrerin gebärdete. “Bin ich hier nicht
richtig? Ist hier nicht Klasse 4?”
“Ja”, sagte Fräulein Wagner, die sich inzwischen gefaßt hatte, “hier
ist die Klasse 4. Aber so kannst du nicht zum Unterricht kommen.
Was hast du denn da auf dem Kopf?”
Marilyn war noch erstaunter.
Weitere Kostenlose Bücher