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Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten

Titel: Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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über ihre Schulter hinab schaute, sah ich wieder den wundervollen Boden. Ich hörte, wie er unter ihrem gewaltigen Gewicht elastisch nachgab, und ich sah die Fußabdrücke, die sie auf ihm hinterließ.
    Vor einem Gebilde, einer Art Bauwerk, legte sie mich auf den Bauch. Erst jetzt bemerkte ich, daß mit meiner Tiefenwahrnehmung etwas nicht stimmte. Ich konnte die Größe des Gebäudes nicht abschätzen. Einen Moment schien es lächerlich klein zu sein, aber dann wieder, nachdem ich anscheinend meinen Blick angepaßt hatte, mußte ich mich über seine monumentalen Ausmaße wundern.
    Das gigantische Mädchen setzte sich neben mich und ließ den Fußboden knarren. Ich berührte ihr riesiges Knie. Sie roch nach Bonbons oder Erdbeeren. Sie sprach mit mir, und ich verstand alles, was sie sagte. Sie zeigte auf das Bauwerk und sagte mir, hier wohne ich.
    Als ich den Schock, mich hier zu befinden, allmählich überwunden hatte, schien sich auch meine Beobachtungsfähigkeit wieder zu bessern. Jetzt bemerkte ich, daß das Bauwerk vier großartige, aber funktionslose Säulen hatte. Sie hatten nichts zu tragen; sie befanden sich auf dem Dach des Gebäudes. Ihre Form war die Schlichtheit selbst; es waren lange, zierliche Gebilde, die sich in jenem furchterregenden, unglaublich gelben Himmel zu verlieren schienen. Diese nutzlosen Säulen erschienen mir als die reine Schönheit. Ich hatte einen Anfall von ästhetischem Überschwang.
    Die Säulen schienen aus einem Stück gemacht - wie, das konnte ich mir nicht vorstellen. Die beiden vorderen Säulen waren durch einen dünnen Balken miteinander verbunden -eine riesige lange Latte, die vielleicht als Geländer oder als Balustrade diente.
    Das gigantische Mädchen schob mich auf dem Rücken in das Bauwerk hinein. Die Decke war schwarz und niedrig, und sie war von symmetrisch angeordneten Löchern übersät, die den gelblichen Glanz des Himmels hereinscheinen ließen und die erstaunlichsten Muster bildeten. Ich war wirklich ergriffen von der Schlichtheit und Schönheit dieses Bildes: diese Flecken gelben Himmels, die durch die exakt verteilten Löcher in der Decke hereinstrahlten, und die Schattenmuster, die sie auf diesem wundervollen, geheimnisvollen Boden erzeugten! Das ganze Gebilde war quadratisch, und abgesehen von seiner prägnanten Schönheit, war es für mich unbegreiflich. Meine Beglückung war so heftig, daß ich weinen - oder für immer hierbleiben wollte. Aber irgendeine Kraft oder Spannung oder sonst etwas Undefinierbares zog an meinen Beinen. Plötzlich befand ich mich außerhalb des Bauwerks, immer noch auf dem Rücken liegend. Das gigantische Mädchen war da, aber bei ihr war noch ein anderes Wesen, eine Frau, die so groß war, daß sie bis in den Himmel reichte und die Sonne verdunkelte. Verglichen mit ihr war das gigantische Mädchen nur eine Zwergin. Die große Frau war böse. Sie packte das Bauwerk an einer seiner Säulen, hob es auf, drehte es um und stellte es auf den Boden. Es war - ein Schemel! Diese Erkenntnis wirkte wie ein Katalysator auf mich; sie löste einige überraschende Erkenntnisse aus. Ich durchlief eine Reihe von Bildern, die zwar nicht zusammenhingen, aber als Sequenz aufgefaßt werden konnten. Schlag auf Schlag erkannte ich, daß der wundervolle, unbegreifliche Boden eine Strohmatte war; der gelbe Himmel war die Stuckdecke eines Zimmers; die Sonne war eine Glühbirne; das Bauwerk, das einen solchen Begeisterungstaumel bei mir ausgelöst hatte. war ein Stuhl, den ein Kind auf den Kopf gestellt hatte, um Häuschen zu spielen. Noch einmal hatte ich eine zusammenhängende Vision einer mysteriösen architektonischen Struktur von gewaltigen Proportionen. Sie stand allein im Raum. Sie sah beinahe aus wie die spitze Muschel einer Schnecke mit aufgerichtetem Schwanz. Die Wände bestanden aus konkaven und konvexen Platten aus irgendeinem seltsamen purpurnen Material; jede Platte hatte Rillen, die wohl eher einem funktionalen als ornamentalen Zweck dienten.
    Ich untersuchte das Gebilde genau und in allen Einzelheiten und stellte fest, daß es, genau wie das Bauwerk vorhin, durchaus unbegreiflich war. Ich erwartete, daß meine Wahrnehmung sich anpassen und das »wahre« Wesen des Gebildes sich enthüllen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Dann hatte ich eine bunte Reihe von fremdartigen, komplizierten »Erkenntnissen« oder »Feststellungen« zu dem Gebilde und seiner Funktion, die aber keinen Sinn ergaben, weil ich sie nicht in einen Bezugsrahmen

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