Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
einordnen konnte. Plötzlich erlangte ich wieder mein normales Bewußtsein. Don Juan und Don Genaro standen neben mir. Ich war müde. Ich suchte nach meiner Uhr; sie war weg. Don Juan und Don Genaro lachten unbeschwert. Don Juan meinte, ich solle mich nicht um die Uhrzeit kümmern und mich lieber darauf konzentrieren, gewisse Ermahnungen zu befolgen, die Don Genaro mir gegeben hatte. Ich wandte mich an Don Genaro, aber der machte nur einen Witz. Er sagte, die wichtigste Ermahnung sei, daß ich lernen müsse, mit dem Finger zu schreiben, um Bleistifte zu sparen und um angeben zu können.
Eine Weile hänselten sie mich noch wegen meinen Aufzeichnungen, und dann schlief ich ein.
Don Juan und Don Genaro hörten sich den ausführlichen Bericht meiner Erlebnisse an, den ich ihnen am nächsten Morgen, auf Don Juans Aufforderung hin gab. »Genaro meint, daß du für diesmal genug hast«, sagte Don Juan, nachdem ich geendet hatte. Don Genaro nickte zustimmend.
»Welche Bedeutung hatte das, was ich gestern abend erlebt habe?« fragte ich.
»Du hast einen Blick auf den Kern der Zauberei geworfen«, sagte Don Juan. »Gestern abend durftest du die Ganzheit deines Selbst erspähen. Aber im Augenblick ist dies für dich natürlich eine sinnlose Feststellung. Das Erreichen der Ganz heit des Selbst ist offenbar nicht eine Frage des Wunsches nach Einsicht oder der Bereitschaft zu lernen. Genaro glaubt, daß dein Körper Zeit braucht, um das Flüstern des Nagual in dich einsinken zu lassen.« Wieder nickte Don Genaro. »Viel Zeit«, sagte er und wackelte mit dem Kopf. »Vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre.«
Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich schaute Don Juan an und erwartete ein Stichwort. Beide zogen ein ernstes Gesicht.
»Habe ich wirklich noch zwanzig oder dreißig Jahre Zeit?« fragte ich.
»Natürlich nicht!« schrie Don Genaro, und beide brachen in schallendes Gelächter aus.
Don Juan sagte, ich solle wiederkommen, sobald meine innere Stimme es mir befehlen werde, und in der Zwischenzeit solle ich versuchen, mich auf all die Empfehlungen zu besinnen, die sie mir gegeben hatten, während ich gespalten war. »Wie soll ich das anstellen?« fragte ich. »Indem du deinen inneren Dialog abstellst und irgend etwas in dir herausfließen und sich ausdehnen läßt«, sagte Don Juan. »Dieses Etwas ist deine Wahrnehmung, aber versuche nicht. herauszufinden, was ich damit meine! Laß dich einfach vom Flüstern des Nagual leiten!«
Dann sagte er, ich hätte am Abend zuvor zwei grundverschiedene Arten von Visionen gehabt. Die eine sei unerklärlich, die andere vollkommen klar, und die Reihenfolge, in der sie aufgetreten seien, deute auf eine Bedingung hin, die uns allen wesenseigen sei.
»Die eine Vision war das Nagual, die andere das Tonal«, fügte Don Genaro hinzu.
Ich bat ihn um weitere Aufklärung. Er sah mich an und klopfte mich auf den Rücken. Don Juan sprang ein und meinte, die ersten beiden Visionen seien das »Nagual« gewesen, und Don Genaro habe einen Baum und den Fußboden zur Verdeutlichung gewählt. Die anderen beiden seien Visionen des »Tonal« gewesen, die er selbst ausgewählt habe; eine davon sei meine Wahrnehmung als Kind. »Sie erschien dir als eine fremde Welt, weil deine Wahrnehmung damals noch nicht darauf abgerichtet war, sich der
gewünschten Form einzufügen«, sagte er.
»War dies wirklich die Art, wie ich die Welt sah?« fragte ich.
»Gewiß!« sagte er. »Das war deine Erinnerung.« Ich fragte Don Juan, ob jener ästhetische Überschwang, der mich erfaßt hatte, ebenfalls Teil meiner Erinnerung gewesen sei.
»Wir erleben solche Visionen mit unseren heutigen Augen«, sagte er. »Du hast diese Szene gesehen, wie du sie heute sehen würdest. Doch es war nur eine Wahrnehmungsübung. Diese Szene entstammte einer Zeit, als die Welt für dich zu dem wurde, was sie heute ist, aus einer Zeit, als ein Schemel zu einem Schemel wurde.«
Auf die andere Szene wollte er nicht näher eingehen. »Das war keine Erinnerung aus meiner Kindheit«, sagte ich.
»Ganz richtig!« sagte er. »Es war etwas anderes.«
»War es etwas, was ich in Zukunft sehen werde?« fragte ich. »Es gibt keine Zukunft!« rief er scharf. »Die Zukunft - das ist nur eine bildliche Redeweise. Für einen Zauberer gibt es nur das Hier und Jetzt.« Ansonsten gebe es im Grunde nichts darüber zu sagen, meinte er, denn der Zweck dieser Übung sei gewesen, die Flügel meiner Wahrnehmung zu entfalten, und obwohl ich nicht mit
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