Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
besteht also darin, das Tonal zu überzeugen, daß es frei und beweglich sein soll. Das ist's, was ein Zauberer vor allem anderen braucht - ein starkes, freies Tonal. Je stärker es wird, desto weniger klammert es sich an sein Tun und desto leichter ist's, es schrumpfen zu lassen. Heute morgen geschah also nichts anderes, als daß ich die Möglichkeit sah, dein Tonal schrumpfen zu lassen. Für einen Moment warst du unachtsam, gehetzt, gedankenlos, und ich nutzte den Augenblick, um dir einen Schubs zu geben. Das Tonal schrumpft bei bestimmten Gelegenheiten, besonders wenn es in Verlegenheit gerät. Ja wirklich, eines der Merkmale des Tonal ist seine Scheu. Auf seine Scheu selbst kommt es eigentlich nicht an. Aber es gibt gewisse Gelegenheiten, da das Tonal überrascht ist, und dann läßt seine Scheu es unvermeidlich schrumpfen.
Heute morgen ergriff ich mein Quentchen Chance. Ich sah die offene Tür jenes Flugbüros und gab dir einen Schubs. Ein Schubs - das ist also die richtige Technik, um das Tonal schrumpfen zu lassen. Man muß es genau im richtigen Moment schubsen, und dazu muß man natürlich sehen können. Sobald der Mann geschubst wird und sein Tonal geschrumpft ist, wird sein Nagual, falls es bereits in Bewegung ist - und ganz gleich wie gering diese Bewegung sein mag - die Führung übernehmen und außerordentliche Taten vollbringen. Heute morgen übernahm dein Nagual die Führung, und du bist auf diesem Markt gelandet.«
Er schwieg einige Zeit. Er schien auf meine Fragen zu warten. Wir sahen einander an. »Ich weiß wirklich nicht, wie es geschieht«, sagte er, als habe er meine Gedanken gelesen. »Ich weiß nur, daß das Nagual unvorstellbare Dinge tun kann.
Heute morgen habe ich dich aufgefordert zu beobachten. Diese Szene vor deinen Augen, was immer sie sein mochte, war von unsagbarem Wert für dich. Aber statt meinem Rat zu folgen, hast du dich in Selbstmitleid und Verwirrung gehenlassen und nicht beobachtet.
Eine Zeitlang warst du ganz Nagual und konntest nicht sprechen. Dies war die Zeit, um zu beobachten. Dann übernahm dein Tonal wieder nach und nach die Führung, und statt dich in einen tödlichen Kampf zwischen deinem Tonal und deinem Nagual stürzen zu lassen, führte ich dich hierher.«
»Was hatte es denn mit dieser Szene auf sich. Don Juan? Was war daran so wichtig?«
»Ich weiß nicht. Ich war's ja nicht, dem es widerfuhr.«
»Was meinst du damit?«
»Es war dein Erlebnis, nicht meines.«
»Aber du warst doch bei mir, nicht wahr?«
»Nein! Das war ich nicht. Du warst allein. Ich habe dir immer wieder gesagt, du solltest alles beobachten, denn diese Szene war nur für dich bestimmt.«
»Aber du warst doch neben mir. Don Juan?«
»Nein, das war ich nicht. Aber es hat keinen Zweck, darüber zu reden. Was ich auch sagen mag, es ergibt keinen Sinn, denn in diesem Augenblick waren wir in der Zeit des Nagual. Die Dinge des Nagual können nur mit dem Körper, nicht mit der Vernunft erfahren werden.«
»Aber wenn du nicht bei mir warst. Don Juan, wer oder was war die Person, die ich als du erlebte?«
»Das war ich. und doch war ich nicht da.«
»Wo warst du denn?«
»Ich war bei dir. aber nicht da. Sagen wir, ich war in deiner Nähe, aber nicht genau an der Stelle, wo dein Nagual dich ergriff.«
»Du meinst, du wußtest nicht, daß wir aufdem Marktwaren?«
»Nein, ich wußte es nicht. Ich bin einfach hinterhergelaufen. um dich nicht zu verlieren.«
»Das ist wirklich furchtbar. Don Juan.«
»Wir waren in der Zeit des Nagual, und daran ist nichts Furchtbares. Wir sind noch zu viel mehr befähigt. Dies liegt in unserer Natur als leuchtende Wesen. Doch wir haben die Neigung, beharrlich auf unserer monotonen, ermüdenden, aber bequemen Insel zu verweilen. Das Tonal ist der Bösewicht, und der sollte es nicht sein.«
Ich schilderte ihm das wenige, dessen ich mich erinnerte. Er wollte wissen, ob ich irgend etwas am Himmel wahrgenommen hätte, etwa das Licht, die Wolken, die Sonne, oder ob ich irgend welche Geräusche gehört hätte. Oder ob mir ungewöhnliche Menschen oder Vorgänge aufgefallen seien. Er wollte wissen, ob irgendwelche Auseinandersetzungen stattgefunden hätten. Ob irgendwelche Leute geschrien hätten, und wenn ja, was sie sagten.
Keine seiner Fragen konnte ich beantworten. Die nackte Wahrheit war, daß ich den ganzen Vorgang scheinbar unbesehen akzeptiert und wie selbstverständlich angenommen hatte, daß ich eine beträchtliche Entfernung in ein oder zwei Sekunden
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