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Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten

Titel: Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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schüchtern!« sagte er. »Sag mir genau, was du siehst*.«
    Plötzlich kam mir ein seltsamer Gedanke in den Sinn, ganz ähnlich jenen Gedanken, die ich in der Regel kurz vor dem Einschlafen habe. Es war mehr als ein Gedanke. Es war ein vollkommenes Bild - das wäre eine bessere Beschreibung. Ich sah ein Gemälde, das verschiedene Personen zeigte. Die eine unmittelbar mir gegenüber war ein Mann, der an einem offenen Fenster saß. Die Fläche vor dem Fensterrahmen war verschwommen, doch der Rahmen selbst und der Mann waren glasklar zu erkennen. Er schaute mich an; sein Kopf war leicht nach links geneigt, so daß er mich buchstäblich schief an-schaute. Ich sah, wie seine Augen sich bewegten, um mich im Blick zu behalten. Er stützte sich mit dem rechten Ellbogen auf die Fensterbank. Seine Hand war zur Faust geballt, seine Muskeln waren angespannt.
    Links von dem Mann war auf dem Gemälde eine andere Figur zu sehen. Es war ein fliegender Löwe. Das heißt, Kopf und Mähne waren die eines Löwen, aber der untere Teil seines Rumpfes war der eines lockigen weißen Pudels. Ich wollte ihn mir genauer ansehen, als der Mann mit den Lippen schnalzte und Kopf und Oberkörper aus dem Fenster reckte. Dann kam sein ganzer Körper zum Vorschein, als ob er von jemandem geschoben würde. Einen Moment hing er in der Luft und klammerte sich mit den Fingerspitzen an den Fensterrahmen, wobei er wie ein Pendel hin und her schwang. Dann ließ er los. Ich empfand am eigenen Leib das Gefühl des Fallens. Es war kein regelrechter Sturz, sondern eher ein weiches Hinabgleiten und dann ein federndes Schweben. Der Mann war schwerelos. Er blieb einen Augenblick in der Schwebe, und dann verschwand er. als ob ihn eine unwiderstehliche Kraft durch einen Spalt im Gemälde aufgesaugt hätte. Im nächsten Moment war er wieder am Fenster und sah mich schief an. Sein rechter Unterarm ruhte auf der Fensterbank, doch diesmal winkte die Hand mir Lebewohl. Don Juan beanstandete, mein »Sehen« sei zu kompliziert.
    »Du kannst es besser«, sagte er. »Du willst, daß ich dir erkläre, was geschehen ist. Nun, ich will, daß du dich dazu des Sehens bedienst. Du hast gesehen, aber du hast Quatsch gesehen. Solche Informationen sind für einen Krieger unbrauchbar. Es würde zu lange dauern, um herauszufinden, was eigentlich was ist. Das Sehen muß unmittelbar sein, denn ein Krieger kann seine Zeit nicht damit vertrödeln, zu enträtseln, was er selbst sieht. Sehen ist Sehen, weil es durch all diesen Unsinn hindurchgeht.«
    Ich fragte ihn, ob er meinte, daß meine Vision lediglich eine Halluzination und nicht wirklich »Sehen« gewesen sei. Er war überzeugt, daß es sich wohl um »Sehen« gehandelt habe, und zwar wegen der komplizierten Einzelheiten, aber er bezeichnete es als unzulänglich für diesen Anlaß. »Glaubst du, daß meine Visionen irgend etwas erklären?« fragte ich. »Gewiß tun sie das. Aber ich an deiner Stelle würde nicht versuchen, sie zu enträtseln. Am Anfang ist das Sehen sehr verwirrend, man kann sich leicht darin verlieren. In dem Maß aber, wie der Krieger sein Leben festigt, wird sein Sehen das. was es sein sollte, ein unmittelbares Wissen.« Während Don Juan sprach, hatte ich eine jener merkwürdigen Gefühlsentgleisungen, und ich empfand ganz deutlich, daß ich im Begriff stand, etwas zu entschleiern - etwas, das ich bereits wußte und das mir dauernd entglitt, indem es sich in etwas ganz Verschwommenes verwandelte. Mir wurde bewußt, daß ich in einen Kampf verstrickt war. Je mehr ich versuchte, dieses flüchtige Wissen zu definieren oder zu erhaschen, desto tiefer versank es.
    »Dieses Sehen war zu . . . zu visionär«, sagte Don Juan. Der Klang seiner Stimme erschreckte mich. »Ein Krieger stellt eine Frage, und durch sein Sehen erhält er eine Antwort, aber die Antwort ist klar und einfach, sie ist nie derart ausgeschmückt, daß lockige weiße Pudel durch die Lüfte fliegen.« Wir lachten über dieses Bild. Und ich sagte ihm halb im Scherz, daß er es mit mir zu genau nehme, daß jemand, der so viel durchgemacht hätte wie ich heute morgen, wohl ein wenig Nachsicht verdiene.
    »Du machst es dir zu leicht«, sagte er. »Du läßt dich wieder mal gehen. Du gründest die Welt auf die Vorstellung, daß alles deine Kräfte überfordert. Du lebst nicht wie ein Krieger.« Ich sagte ihm, daß das, was er die Lebensart des Kriegers nannte, so viele Aspekte habe, daß es unmöglich sei, ihnen allen gerecht zu werden, und daß die Bedeutung

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