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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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weit in diese andere Welt einzudringen. Das ist auch der Grund, warum du uns heute so sehr mitgezogen hast, daß wir beinah gestorben wären.
    Wir wollten unsere zweite Aufmerksamkeit am Fleck des Nagual versammeln, aber du zerrtest uns wer weiß wohin. Dafür sind wir noch nicht bereit — aber du auch nicht. Immerhin, du kannst nichts dafür; die Kraftpflanzen haben dich so gemacht. Der Nagual hatte recht: wir alle müssen dir helfen, deine zweite Aufmerksamkeit zu zähmen, und du mußt uns helfen, die unsere voranzutreiben. Deine zweite Aufmerksamkeit geht sehr weit, aber sie ist unkontrolliert; unsere geht nur ein Stück weit, aber wir haben sie völlig unter Kontrolle.«
    Dann erzählten die Schwesterchen und la Gorda mir der Reihe nach, wie furchtbar für sie das Erlebnis gewesen war, in jener anderen Welt verloren zu sein.
    »Als der Nagual mit seinem Rauch deine zweite Aufmerksamkeit versammelte«, fuhr la Gorda dort, »da konzentriertest du sie auf eine Mücke, und dann wurde diese kleine Mücke für dich der Wächter der anderen Welt.«
    Ja, so war es gewesen. Auf ihre Bitte erzählte ich ihnen von der Erfahrung, der Don Juan mich damals ausgesetzt hatte. Mit Hilfe seiner Rauchmixtur hatte ich eine Mücke als dreißig Meter hohes, schreckliches Monster wahrgenommen, das sich mit unglaublicher Schnelligkeit und Behendigkeit fortbewegte. Die Häßlichkeit dieser Kreatur war ekelerregend, aber sie hatte auch etwas ehrfurchtgebietend Großartiges an sich.
    Es war mir ganz unmöglich gewesen, dieses Erlebnis in mein rationales Denkschema einzufügen. Mein Intellekt konnte sich einzig auf meine unerschütterliche Gewißheit gründen, daß diese psychotrope Rauchmixtur unter anderem die Wirkung hatte, mich diese Mücke in solcher Größe halluzinieren zu lassen. Also trug ich ihnen, besonders aber la Gorda, meine rationale und kausale Erklärung des Geschehens vor. Sie lachten nur. »Halluzinationen gibt es nicht«, sagte la Gorda entschieden. »Wenn jemand plötzlich etwas anderes sieht, etwas, das vorher nicht da war, dann geschieht dies deshalb, weil die zweite Aufmerksamkeit dieses Menschen gesammelt ist und er sie auf etwas Bestimmtes konzentriert. Um die Aufmerksamkeit des Betreffenden zu sammeln aber ist alles Mögliche geeignet: der Schnaps, seine Verrücktheit, oder vielleicht die Rauchmixtur des Nagual. Du sahst eine Mücke, und für dich wurde sie zum Wächter der anderen Welt. Und weißt du, was diese andere Welt ist? Es ist die Welt unserer zweiten Aufmerksamkeit. Vielleicht glaubte der Nagual, deine zweite Aufmerksamkeit sei stark genug, um am Wächter vorbeizugehen und in diese Welt zu gelangen; aber das war sie nicht. Wäre sie es gewesen, dann wärst du vielleicht in diese Welt eingegangen und nie wieder zurückgekehrt. Der Nagual hat mir erzählt, daß er bereit war, dir zu folgen. Aber der Wächter ließ dich nicht vorbei und hätte dich beinah getötet. Danach konnte der Nagual dir keine Kraftpflanzen mehr geben, um dir zu helfen, deine zweite Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Denn du konntest sie nur auf die schreckliche Seite der Dinge richten. Statt dessen ließ er dich träumen, so daß du sie auf andere Weise sammeln konntest. Aber er wußte, daß auch dein Träumen schrecklich sein würde. Und er konnte nichts dagegen tun. Du folgtest eben getreulich in seinen Fußstapfen, und er hatte eine schreckliche Seite seines Wesens.«
    Sie verharrten schweigend. Es war, als würden sie alle von ihren Erinnerungen überwältigt.
    Dann sagte la Gorda, der Nagual habe mir einmal, in den Bergen seiner Heimat, ein ganz besondres rotes Insekt gezeigt. Sie fragte, ob ich mich daran erinnern könne.
    Ja, ich erinnerte mich. Vor Jahren einmal hatte Don Juan mich in eine mir unbekannte Gegend in den Bergen Nordmexikos mitgenommen. Unter Wahrung aller Vorsicht zeigte er mir ein paar runde Insekten, etwa von der Größe eines Marienkäfers. Ihr Rücken war leuchtend rot. Ich wollte mich bücken und sie genauer betrachten, aber er ließ es nicht zu. Er sagte, ich solle sie beobachten, ohne sie aber anzustarren, bis ich mir ihre Form eingeprägt hätte, denn ich müsse mich stets an sie erinnern. Und dann erklärte er mir ein paar merkwürdige Einzelheiten ihres Verhaltens, wobei mir die ganze Geschichte wie eine Metapher vorkam. Er sprach davon, welch willkürliche Bedeutung wir unseren teuersten Sitten und Bräuchen beimäßen. Dann erläuterte er mir die Bräuche dieser Insekten und verglich sie mit den

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