Donner: Die Chroniken von Hara 3
wieder in den dichten Wald einzudringen.
Hier schien die Dämmerung seit geraumer Zeit Einzug gehalten zu haben und bereits der Nacht zu weichen. Nach einer Stunde schimmerte weißer Stein zwischen den Bäumen hindurch. Sofort hielten sie an einer Böschung an.
Dort spähten sie hinunter. In einem Talkessel lag eine verlassene Stadt. Am Rand türmten sich nur Berge weißen Steins und massive, moosbewachsene Platten, die ihnen nicht mehr erzählen konnten, zu welchen Bauwerken sie sich einst gefügt hatten.
Zur Mitte des Talkessels hin machten sie jedoch weitgehend erhaltene Bauten – wenn auch mit eingestürzten Dächern – und die sechsseitige Stele aus. Der Schmetterling auf ihrer Spitze schien hoch über diesem Ort zu schweben.
»Diese Missgeburten aber auch! Wer hätte gedacht, dass die Hochwohlgeborenen solche Bauten erschaffen können«, stieß Kallen aus, doch der grobe Ton bemäntelte seine aufrichtige Begeisterung nur schlecht.
»Angeblich hat sich der Skulptor sogar einiges bei ihnen abgeguckt«, bemerkte Rando, der die Stele aufmerksam betrachtete. Sie erinnerte ihn ein wenig an den Koloss von Korunn. »Sicher, er hat seine eigene Handschrift gehabt – aber das grundlegende Prinzip ihrer Bauweise muss er tatsächlich übernommen haben.«
»Was meint Ihr, Mylord, wie alt ist dieser Ort?«, erkundigte sich Luk.
»Mindestens dreitausend Jahre. Die Stadt ist schlecht erhalten, der Wald hat sie schon fast ganz geschluckt.«
»Diese Elfen soll einer verstehen!«, wetterte Luk. »In einer solchen Grube eine Stadt anzulegen! Die kann doch selbst der dümmste Feldherr im Handumdrehen einnehmen! Und dann haben sie noch nicht mal Verteidigungsmauern und Türme errichtet!«
»Das brauchten sie auch nicht«, erklärte Rando. »Denn sie hatten ja keine Feinde. Das Land, aus dem später das Imperium hervorging, hat diese Gegend hier geflissentlich übersehen und nur Augen für das Küstengebiet gehabt. Wie hätten die Hochwohlgeborenen ahnen sollen, dass sich daran einmal etwas ändern würde?«
»Da drüben führt ein Weg nach unten«, sagte Luk.
An der bezeichneten Stelle war der Hang wesentlich flacher, außerdem ließen sich sogar Stufen erahnen. Als sie hinunterstiegen, knirschten kleine Steine unter ihren Füßen, um die ersten Gäste seit langen Jahren zu begrüßen.
Sie liefen durch die Hauptstraße, die von halb verfallenen Häusern und geborstenen Marmorsäulen flankiert wurde. Vertrockneter Efeu, Winden und gelbe Farne wucherten bis auf Mannshöhe. Auch hier wuchsen Ahornbäume. Ihre Blätter zeigten das gleiche Rot wie jene auf dem Elfenfriedhof.
Rando fragte sich, ob die Wirkung, die die verfallene Stadt auf ihn hatte, beabsichtigt oder reiner Zufall war. Doch so oder so – sie war überwältigend: Der vom Wald gesäumte Talkessel bildete einen Brunnen, der bis auf den Grund von Sonnenlicht durchstrahlt war.
»Warum haben sie die Stadt eigentlich nicht zerstört?«, fragte Luk.
»Hättest du das denn getan?«, fragte Rando zurück und zog seine Handschuhe aus, um sie hinter den Gürtel zu stecken.
»Ich weiß nicht, ich hab ja noch nie gegen die Spitzohren gekämpft.«
»Vielleicht hat es hier überhaupt keinen Kampf gegeben«, sinnierte Rando. »Die Stadt besitzt keine Verteidigungsmauern, darauf hast du selbst gerade eben hingewiesen. Vielleicht haben die Bewohner sie also ohne Kampf verlassen, um in den Sandoner Wald oder nach Uloron zu ziehen.«
»Aber in all den Jahren hätte doch jemand …«
»Dieser Ort liegt weitab«, fiel Kallen Luk ins Wort. »Und das Imperium ist groß. Man kann nicht jeden Wald durchkämmen, nicht jeden Berg erklimmen.«
»Aber dann gibt’s hier vielleicht noch Reichtümer!«, rief Luk.
»Klar«, erwiderte Kallen grinsend. »Die Fußlappen des Delben. Mit seinem persönlichen Monogramm.«
»Da platzt doch die Kröte! Warum ziehst du ständig über mich her? Wenn die Elfen fliehen mussten, dann kann hier gut und gern noch ein ganzer Schatz …«
»Nun mal ganz sachte, Luk«, bat Ga-nor. »Die Elfen hatten nie viel für Gold übrig. Und sie haben ihren Feinden nie etwas von Wert überlassen.«
»Wenn das Erste zutrifft, scheidet das Zweite sowieso aus.«
»Die Schlussfolgerung bleibt trotzdem dieselbe: Hier findest du nichts mehr.«
Die Straße, die sie hinuntergingen, roch wie ein sterbender Garten. Überall wucherten Disteln. Abgestorbener Efeu hing noch immer in den Rissen der weißen Steine und weigerte sich hartnäckig herabzufallen. Seine
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