Doppelte Schuld
Gräber, die man besuchen konnte.
»Es ist doch deine Geschichte«, hatte er schließlich hilflos gesagt.
Eben. Was für eine unnütze Debatte.
»Und dein Vater …«
Sie war aufgesprungen und hatte das Glas Wein umgeschüttet, das er ihr eingegossen hatte. Es war ein leuchtendwarmer Sommerabend gewesen, sie hatten draußen gesessen auf der Bank vor dem Kutscherhaus. Zeus hatte erschrocken gekläfft.
»Warum kümmerst du dich nicht um deine Angelegenheiten?«
»Katalina! Ich meine doch nur …«
»Was ist mit deiner Mutter? Du weißt doch auch nicht, ob sie noch lebt. Warum suchst du nicht sie?«
Sie hatte ablenken wollen und das alles nicht wirklich ernst gemeint, aber er hatte nachdenklich genickt und dann: »Wahrscheinlich hast du recht« gesagt. Und seither …
Jemand drückte die Praxistür auf. Katalina fluchte leise, sie hätte abschließen müssen. Sie hatte keine Lust auf noch einen Hund mit Verdauungsproblemen. Die Schritte klangen nach einem Mann. Das klickende Geräusch von Hundekrallen auf dem Fußboden fehlte. Und – der Mann ging nicht ins Wartezimmer. Katalina drehte sich um, zur Tür. Da stand er, ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht und eine Flasche Champagner in der Hand.
»Gibt es etwas zu feiern?« fragte sie mit schwacher Stimme.
»Und ob«, sagte Moritz und zog zwei Gläser aus der Jackentasche.
Sie sah zu, wie er mit langen schmalen Fingern die Folie vom Flaschenhals löste und die Agraffe aufbog. Auf dem Korken erkannte sie die wohlbekannte Plakette mit dem Konterfei der Witwe.
»Und was feiern wir?« fragte sie, als er ihr eines der Gläser hinhielt.
»Daß wir heute abend ausgehen.«
Es war später Nachmittag, und letzte Sonnenstrahlen fielen auf die Terrasse des Hotels Viktoria Luise. Frau Willke begrüßte sie überschwenglich, während Zeus und der altersschwache Hund des Hauses sich beschnupperten.
»Den Aperitif auf der Terrasse? Wie üblich?«
Wie üblich. Katalina nickte und lächelte und war traurig zugleich. Moritz war mit ihr seit Monaten nicht mehr hiergewesen.
Er legte ihr den Arm um die Schultern, während sie über den Kies zu einem der Tische gingen, mit Blick durch das Geäst der alten Eichen aufs Schloß. Wieder so ein Moment, der zum Bleiben einlud. Wieder ein Grund mehr zu gehen. Sie mußte es ihm sagen, heute.
Katalina spürte seinen Blick und sah auf. Er hatte noch immer dichte dunkle Haare, wie ein weit jüngerer Mann. Seine hellen blauen Augen standen ein wenig schräg, und die tiefen Linien zwischen Nase und Mundwinkel ließen sein Gesicht noch schmaler wirken.
»Was ist passiert?«
Du kennst mich zu gut, dachte sie und hob das Glas. »Viel zu tun«, sagte sie. »Und du?«
Sein bubenhaftes Grinsen überraschte sie. »Ich habe beschlossen, mich deiner Meinung anzuschließen.« Er stieß mit ihr an, eine Geste, die sie mochte, ebenso das Händeschütteln zur Begrüßung, was viele altmodisch fanden. Sie hatte nie darüber nachgedacht, aber sie war es so gewohnt. Von früher. Von Glogovac.
»Was für eine gute Entscheidung. Und wenn du mir noch sagst, um welche meiner Meinungen es sich handelt …« Sie versuchte zu lächeln, aber sie ahnte, was er sagen wollte.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er leise. »Vielleicht ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«
Diesmal stieß sie nicht mit ihm an.
Sie wußte hinterher nicht mehr, ob sie sich getäuscht hatte oder ob sie wirklich im Spiegel des schmalen Sektkelchs gesehen hatte, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Als auch Moritz amüsiert lächelte, drehte sie sich um – und erstarrte. Diesmal waren die Augen nicht geschlossen. Diesmal sah die Frau sie an. Und sie trug auch kein weißes Gewand mehr, sondern eine elegante Samthose und ein sportliches Jackett. Das weiße Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten, und der göttliche Anubis war nur noch ein manierlicher schwarzer Schäferhund, der sich von Zeus umschmeicheln ließ.
»Guten Abend«, sagte die alte Dame, die ganz und gar nicht blind wirkte, und winkte den schwarzen Hund auf den Platz neben sich. Zeus’ Schwanz senkte sich auf Halbmast.
»Guten Abend!« Moritz setzte sein schönstes Schwiegersohngesicht auf.
Katalina tätschelte Zeus den Hals, der sich verlegen zu ihr zurückgeschlichen hatte, und sagte gar nichts. Der Abend war verdorben, bevor er begonnen hatte.
Zum Essen gingen sie in den Speisesaal, es war kühl geworden draußen, nachdem die Sonne untergegangen war. Katalina stocherte erst in einem
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