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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Sieh nicht hin. Geh weiter.
    Aber da war etwas, und sie mußte hinsehen. Zeus winselte, als sie ihn zurückließ und in das Unterholz am Wegesrand vordrang. Zweige knackten unter ihren Schritten. Die Vögel waren still, und kein Blatt an den Bäumen über ihr bewegte sich.
    Der Schuh. Als erstes sah sie den Schuh, einen hellbraunen Halbschuh. Der Schuh war weder elegant noch sportlich, so etwas trugen Leute, denen nicht wichtig war, was sie an den Füßen hatten. Dazu dunkelblaue Socken, so kurz, daß man das Bein sehen konnte – ein nicht sehr kräftiges Männerbein, behaart und von einer Farbe, die in diesem Sommer selten geworden war: blaß. Das andere Bein war leicht angewinkelt, das Hosenbein hochgeschoben.
    Katalina versuchte zu schlucken, aber die Zunge klebte ihr am Gaumen. In ihrem Magen krümmte sich etwas zusammen und schlug mit den Flügeln wie ein dunkler Nachtvogel.
    Die Schuhe. Die Socken. Die Jeans. Der beigefarbene Blouson, unter dem man ein blaues Hemd erkennen konnte. Katalinas Blick heftete sich an den Leberfleck unterhalb des Kehlkopfs des Mannes, irgend etwas fiel ihr auf, aber sie bekam den Gedanken nicht zu fassen.
    Du willst es nicht wissen, flüsterte es in ihr. Aber du weißt, was du gleich sehen wirst.
    Sie ließ den Blick weiterwandern. Natürlich, sie erkannte ihn sofort. Bartlos, käsige Haut, sandiges, dünn gewordenes Haar, alles so blaß wie der ganze Mann. Und blaue Augen, daran erinnerte sie sich, denn sehen konnte man die Augenfarbe nicht, obwohl das linke Auge offenstand. Auf der stumpf gewordenen Pupille hockte eine grünschillernde Fliege.
    Die Fliegen. Schwärme giftig schillernder, bösartig surrender Fliegen. Ganze Wolken von Fliegen, die sich erhoben, wenn man näher kam, und die wie UFOs in der Luft standen, ungehalten, weil man sie hinderte, auf ihren Festplatz zurückzukehren, auf dem sie Orgien feierten, fraßen, sich begatteten, Eier legten. Und die sich herabsenkten wie ein Sargdeckel, wenn man ihnen das Feld wieder überließ.
    Katalina versuchte, das bissige Tier zurückzudrängen, das ihr die Kehle hochsteigen wollte. Sie hatte viel zu oft die Maden wimmeln gesehen auf abgerissenen Gliedmaßen, zerfetzten Leibern, aufgeplatzten Schädeln, in irgendeinem Stück Fleisch, das einmal zu einem Menschen gehört hatte.
    Er ist tot, er braucht keine Erste Hilfe mehr, laß ihn liegen, flüsterte die innere Stimme. Dennoch zwängte sie sich weiter vor durchs Gestrüpp. Die Fliege auf dem Auge des Mannes erhob sich, ärgerlich summend. Katalina unterdrückte einen Aufschrei. Sie streckte die Hand aus, um an der Halsschlagader nach dem Puls zu tasten. Ihr Blick wich den toten Augen aus, heftete sich wieder an das Muttermal unter dem Kehlkopf, etwas irritierte sie, der Kopf des Mannes war nach hinten gebogen, zu weit nach hinten. Aber äußere Verletzungen waren nicht zu erkennen, und tot war er ohne Zweifel. Dennoch faßte sie den leblosen Mann an den Unterkiefer. Kein Zeichen von Totenstarre. Natürlich nicht. Ihr Herzschlag stolperte. Der Mann war noch warm.
    Sie wich zwei Schritte zurück, mitten in eine Brombeerhecke. Das wütende Tier in ihrer Kehle strampelte mit spitzen Krallen nach oben. Ihre Hand suchte Halt und faßte in die Brombeerranken. Der Schmerz lenkte sie ab von dem Wunsch, sich zu übergeben.
    Alles in ihr wollte weg von hier, ihr Magen, ihr Herz, das Gedärm – nicht nur aus Ekel und Angst, nein: Es war einfach nicht gut, bei einer Leiche angetroffen zu werden, das saß ganz fest und ganz tief innen drin. Sie tastete nach dem Mobiltelefon in ihrer Hosentasche. Nein, es war ebensowenig gut, die Polizei anzurufen – auch das hatte sie noch nicht verlernt, selbst nicht nach fünfzehn friedlichen Jahren. Es war am besten, nichts zu sehen, zu hören, zu wissen, zu sagen, schon gar nicht, daß sie den Mann kannte.
    Er war gestern in der Praxis erschienen, hatte inmitten der Hunde-, Katzen- und Kanarienvogelbesitzer gesessen, die ihre Tiere in Käfigen und Körben auf den Knien hielten, hatte nichts im Schoß gehabt außer gefalteten Händen. Der Mann hatte abgewunken, als sie ihn ins Sprechzimmer bitten wollte, und einem Kind mit Hamster den Vortritt gelassen. Und als er endlich an der Reihe war …
    »Pferde oder Rinder?« hatte sie gefragt, als er vor ihr saß, sehr höflich und sehr schüchtern.
    »Wie bitte?« Der Mann, der sich als Frank Beyer vorgestellt hatte, wirkte unsicher wie ein Schuljunge.
    Sie hatte ihn angelächelt, um ihn zu ermutigen. »Sie

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