Doppelte Schuld
Marie.«
»Was willst du noch vom Leben, Martin, in deinem Alter?« sagte sie freundlich. »Es ist endlich, weißt du. Das Leben.«
»Ganz die Philosophin, Marie.« Axt kniff die Augen zusammen. »Aber darauf bin ich nur einmal in meinem Leben hereingefallen.«
Damals, im Sommer 1955. Er hatte aufgepaßt, daß sie ihn nicht von hinten sah, in ihrer ersten Nacht. Aber sie hatte die Striemen auf seinem Rücken ertastet. »Es ist nichts.« Er duckte sich unter ihrer Hand weg. Sie hatte gelacht und ihn geneckt. »Komm! Jede Narbe eines tapferen Antifaschisten ist eine Auszeichnung!« Aber seine Haut war kühl geworden, sein Körper empfindungslos. Marmor, gemeißelt.
Das war sein Mythos: daß er bereits im Alter von 15 Jahren seinen ersten Faschisten getötet hatte. Deckname im Untergrund: die Katze. Sein Nimbus überstrahlte seine Jugend, in der Partei kam niemand an ihm vorbei, was der Grund dafür war, daß sie damals mit ihm angebandelt hatte.
Es brauchte einige Nächte, bis er ihr alles erzählte.
»Laß uns Tacheles reden, Marie.« Axt holte eine zerknitterte Schachtel Benson & Hedges aus der Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an. Sie sah mit Interesse, daß die Hand, die das Feuerzeug hielt, zitterte. »Du weißt, was auf dem Spiel steht. Dein Sohn. Willst du, daß er erfährt, wie wenig seiner Mutter an ihm liegt? Erst verläßt sie ihn, als er noch ein Kind ist, und dann läßt sie ihn über die Klinge springen, weil ihr ein paar hundert Milliönchen wichtiger sind.« Er streckte das Kinn vor und sah ihr in die Augen. »Rabenmutter«, sagte er.
Sie schlug mit der Hand nach dem Zigarettenrauch, den er ihr entgegenblies. »Also gut. Welche Garantien gibst du mir, daß er auch freikommt, wenn du hast, was du willst? Und vor allem – was ist mit Gregor?«
»Gute Frage.« Axt runzelte die Stirn. »Vielleicht solltest du auch an die Gesundheit deines Verlobten denken? Deines Exverlobten. Ihr werdet euch viel zu erzählen haben. Wenn der wüßte, was für eine begehrte Frau du damals warst.«
Mary merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie war nicht unempfindlich gegen Axts Stichelei. Er hatte ein Gespür für ihre wunden Punkte. Einer davon war Gregor. Sie hatte nie vergessen, wer sie für ihren Verlobten gewesen war. Sein »Stern in der Nacht der Demütigung«, hatte er in einem Feldpostbrief an die Eltern geschrieben. Seine »edle Größe in süßer Gestalt«. Sie hatte schon damals dem Bild nicht entsprochen. Wie erst würde er sie heute sehen?
»Und wenn er wüßte, daß du sie alle verraten hast, alle, mit denen du im Bett warst! Entweder an den KGB oder an uns oder an die lieben Freunde vom SIS. Selbst Paul Grunau. Nichts war dir heilig.«
»Ging es dir anders? Hast du auf irgend etwas oder irgendwen Rücksicht genommen? Was hast du mir schon vorzuwerfen?«
»Deine Gefühllosigkeit.«
Mary starrte ihn an. Die Antwort war zu schnell gekommen, und Martins Stimme hatte gezittert, fast unmerklich. Also rührte sich doch noch etwas unter dem Narbenpanzer – das, was sie damals schon gespürt hatte. Ob es etwas geändert hätte, wenn sie nicht so ungeduldig und ungerecht verfahren wäre mit ihm?
Martins Geschichte spiegelte den Wahnsinn wider, in den die Welt taumelte, damals, im dreckigen Dutzend Jahre zwischen 1933 und 1945. In dieser Welt des Wahnsinns war er immer geblieben.
Martin Axts Vater war ein altgedientes KPD-Mitglied gewesen, angestellt bei der Reichsbahn, arbeitslos, danach Aufstieg in der Partei, immer wieder im Gefängnis. Seit 1933, als die Nazis an die Macht kamen, im Untergrund. Der Junge schmuggelte schon als Sechsjähriger Flugblätter im Kinderwagen der kleinen Schwester.
Und plötzlich der Schock: der Hitler-Stalin-Pakt. Die Nazis die neuen Verbündeten der Sowjetunion. Wer von den deutschen Kommunisten diese Linie nicht mittrug, war ein Verräter. Martins Vater war ein Verräter. Er starb bei einem Verhör durch die Gestapo, an die ihn seine Genossen ausgeliefert hatten. Die Mutter überlebte knapp.
Und Martin? Wollte seinen Vater rächen, während die KP-Genossen ihn, seine Mutter und seine Schwester aus der Wohnung und aus dem Stadtteil jagten.
»Gib mir den Schlüssel«, sagte Axt. Kein Zittern mehr in der Stimme.
Sie sah ihn an. »Schmerzen sie noch, die Narben?« fragte sie leise.
»Komm mir nicht damit«, flüsterte er. »Komm mir bloß nicht damit.«
Als das Deutsche Reich der Sowjetunion den Krieg erklärte, gab es wieder
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