1602 - Die Lady aus der Hölle
Lester wusste nicht genau, wie er die Entdeckung einstufen sollte. Er fragte sich, ob er diesen Schädel überhaupt gesehen hatte oder ob er nicht einer Einbildung erlegen war. Der Bildschirm des Computers, vor dem er saß, konnte ihm ebenfalls keine Antwort geben, auf ihm waren nur Zahlenkolonnen zu sehen, aber nicht diese Fratze.
Er drehte den Kopf, um einen Blick in das Nachbarbüro zu werfen. Das gelang ihm ohne Mühe, denn in dem Bereich, in dem er arbeitete, war alles gläsern.
Es gab zwar einzelne Büros, sie hatten aber keine normalen Mauern, sondern gläserne Wände. So konnte jeder seine Kollegen sehen, wenn sie vor ihren Bildschirmen saßen.
Im Moment saß niemand dort, abgesehen von Richard Lester. Und auch er hätte eigentlich nicht hier sein sollen, aber er hatte es seinen Auftraggebern versprochen. Es ging um sehr viel Geld, das man ihm geboten hatte. Die Hälfte der Summe hatte er bereits erhalten, die zweite würde folgen, wenn die Informationen komplett waren.
Das würde in einigen Minuten so weit sein. Mit den Zahlenreihen, die nur noch ausgedruckt werden mussten, konnten andere nichts anfangen. Sie waren verschlüsselt, doch seine Auftraggeber waren an den Code herangekommen, das hatte man Lester zumindest gesagt. Jetzt brauchten sie nur noch die Tabellen, um sämtliche Informationen zu haben.
Es lief alles gut. Auch deshalb, weil sich Lester auskannte. Er wusste, dass das Institut auch in der Nacht nicht unbewacht war. Die elektronischen Wachtposten hatte er umgehen können, aber es gab als zusätzliche Sicherung noch die zweibeinigen Wachtposten, die zu bestimmten Zeiten patrouillierten, und genau diese Intervalle musste er ausnutzen.
Das hatte er geschafft.
Es blieben ihm noch knappe fünf Minuten, dann musste er weg. Es sollte kein Problem für ihn werden. Er musste die Infos nur noch ausdrucken, dann war die Sache gelaufen.
Und jetzt war das Gesicht erschienen!
Lester wusste nicht, wie er es einschätzen sollte. Hatte er sich geirrt?
War das Gesicht irgendein Spiegelbild gewesen, eine Halluzination, ein Hologramm? Oder gab es tatsächlich einen Menschen, der so aussah?
Das wollte er nicht glauben. Niemand konnte so existieren. Halb Mensch und halb Skelett.
Egal wie oder was, Lester musste die Entdeckung aus seinen Gedanken verdrängen. Er hatte andere Dinge zu tun. Die ausgedruckte Liste nehmen und verschwinden.
Wenn sich jemand auf seine Menschenkenntnis berufen hätte und man ihn gefragt hätte, wie er Lester einschätzen würde, dann hätte es nur eine nichtssagende Antwort gegeben. Ein grauer Durchschnittstyp, der nicht auffiel. Einer, den niemand beachtete. Recht klein für einen Mann, Haare ohne Farbe. Irgendwie schon blond, aber mehr auch nicht. Hinzu kam das blasse Gesicht mit den farblosen Augen.
Lester hatte andere Eigenschaften. Er war ein Tüftler, ein Computerfreak. In der Firma hörte man auf seinen Rat. Er war angesehen, aber das war ihm nicht genug. Er wäre gern Abteilungsleiter geworden. Das hatte man ihm verwehrt, und darüber ärgerte er sich so sehr, dass er zum Verräter geworden war.
Er würde die geheimen Unterlagen verkaufen und dafür viel Geld kassieren.
Und dann war er weg. Untergetaucht im Ausland. Nur nicht ohne Job, denn den hatte er schon so gut wie sicher, auch wenn die Arbeitsstelle außerhalb Europas lag, aber das war ihm egal.
Bisher hatte er sich sicher gefühlt. Es hatte keine Hinweise darauf gegeben, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. Bis er eben dieses Gesicht gesehen hatte.
Mehr allerdings nicht. Ein Körper war ihm nicht aufgefallen. Trotzdem musste es ihn geben, und so ging er davon aus, dass er sich nicht allein in dieser Etage aufhielt.
Aber wer war noch da?
Von seinen Kollegen niemand. Die hätten auch nicht so ausgesehen.
Von den Sicherheitsleuten auch niemand, ihre Rundenzeiten kannte er.
Aber er war keiner Täuschung erlegen. Das gespenstische Gesicht hatte sich gezeigt und war einen Moment später wieder verschwunden gewesen.
Das summende Geräusch des Druckers erzeugte bei ihm ein zufriedenes Gefühl. Er schaute nach rechts. Die Seiten wurden ausgespuckt, und Lester steckte sie in einen Umschlag.
Die letzte Seite!
Es hätte ihm eigentlich ein Stein vom Herzen fallen müssen, doch seine Unsicherheit blieb. Ihm würde es erst besser gehen, wenn er das Haus verlassen hatte.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er spürte ihn auch in den Achselhöhlen. Was er hier getan hatte, das war so verdammt endgültig
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