Dornenkuss - Roman
Es war wohltuend, sich nur auf diese Kleinigkeit zu konzentrieren. Doch ich kam zu spät. Er war nicht mehr da. Ich hatte mich trotzdem sofort ins Bett gelegt, wo ich mich zwar allein fühlte, aber einigermaßen von den Strapazen der Nacht erholen konnte, und gewartet, bis die anderen wach wurden.
An Colins und meiner Abmachung hatte sich glücklicherweise nichts geändert; wir würden heute Abend gemeinsam nach Pietrapaola fahren, um einen genaueren Blick auf Angelo zu werfen. Mein gestriger Blick war jedoch schon exakt genug gewesen, um zu wissen, dass Angelo und Mesut Özil so viele Gemeinsamkeiten hatten wie Schlagsahne und eine Gewürzgurke.
»Doch!«, beharrte Gianna und tippte auf seine Augen. »Ich sag ja nicht, dass er so hübsch ist wie Angelo, auch wenn er hübsch ist – das ist er, Ellie! Für einen Fußballer jedenfalls! Aber seine Augen sehen aus wie gemalt. Genau wie bei Angelo.«
»Özil hat Glubschaugen«, erwiderte ich kritisch. »Richtige Glubschaugen. Angelo hat keine Glubschaugen.«
»Oh Ellie«, seufzte Gianna und gab auf. »Das Abstrahieren liegt dir nicht, was? Natürlich hat Angelo keine Glubschaugen, aber bei ihm ist es wie bei Özil, ich muss ständig hinschauen, weil mit diesen Augen etwas anders ist, es fesselt einen, und ich finde, bei beiden sieht es aus, als habe sie jemand gemalt … Menschen haben eigentlich keine solchen Augen …«
»Angelo ist ja auch kein Mensch. Er ist ein Mahr.«
»Stimmt.« Gianna seufzte noch einmal. Sie hatte meine Enthüllung beim Frühstück gefasst aufgenommen, nach außen hin zumindest. Doch die Erleichterung war ihr deutlich von den Augen abzulesen gewesen, als ich im gleichen Atemzug verkündet hatte, dass Colin und ich allein in die Pianobar fahren würden, um Angelo unter die Lupe zu nehmen. Colins Bedingung. Er wollte die anderen nicht mit hineinziehen.
Paul passte das nicht im Geringsten. Er wollte kein weiteres Mal zur Tatenlosigkeit verdammt werden und noch weniger wollte er, dass ich allein mit einem Mahr loszog, um einen anderen Mahr zu treffen. Auch Tillmann hatte lautstark vor sich hin gemotzt, obwohl er eine Verabredung mit einem italienischen Mädchen für die Disco hatte und mir immer noch grollte. Doch sie hatten beide rasch Ruhe gegeben, als ich vorgeschlagen hatte, das bitte persönlich mit Colin auszudiskutieren. Darauf hatten sie genauso wenig Lust wie ich.
Meine Entführung hatte niemanden gejuckt; Colin hatte ihnen wohl erzählt, dass er gerne eine Nacht mit mir allein verbringen wollte, was meiner Ansicht nach eine sehr beschönigende Umschreibung für das war, was sich im Wald abgespielt hatte, doch im Kern nicht verkehrt. Dass ich abends Angelo wiedersehen würde, war für mich der Strohhalm, den ich dringend brauchte und an dem ich mich festhalten konnte. Er machte alles leichter, ich fühlte mich sogar geradezu beschwingt, wenn ich daran dachte, und verspürte keinerlei Angst. Colin war ja bei mir.
Ich blickte wieder zu Gianna auf, die gedankenverloren das Hackfleisch rührte, ihr Blick weit weg. »Er wirkt auf mich gar nicht wie ein Mahr. Ich meine, ja, er ist schön, ausnehmend schön, eine jugendliche Schönheit, aber …« Sie klopfte mit dem Kochlöffel auf den Rand der Pfanne. »Ich will dir nicht zu nahe treten und Colin erst recht nicht, doch in Colins Nähe ist mir unheimlicher zumute, als wenn Angelo auf dem Piano herumklimpert. Ob’s die Farben sind? Blond und blauäugig?«, sinnierte sie. »Nein, das war François auch. Oder die Musik? Musik kann vieles beeinflussen. Ich muss es wissen. Nehmt euch jedenfalls in Acht, ja?«
Ich nickte brav.
Die Zeit bis zum Abend kam mir doppelt so lange vor wie sonst. In der Siesta fand ich keine Ruhe und wälzte mich von einer Seite auf die andere. Ich wusste nicht, was mich mehr in freudige Aufregung versetzte – der Gedanke, mit Colin auszugehen, wie ein richtiges Pärchen es tun sollte, oder die Vorstellung, Angelo wiederzusehen und endlich etwas über den Verbleib meines Vaters herauszufinden. Was das sein könnte, darüber wollte ich jetzt nicht fantasieren. Aber ich fühlte mich ihm näher als all die Monate zuvor. Ja, ich war optimistisch, das Glas war ausnahmsweise halb voll und nicht halb leer, eine für mich gänzlich ungewohnte Sichtweise, doch die Dankbarkeit, überlebt zu haben, erfüllte mich immer noch mit positiver Energie, auch wenn das nächtliche Gespräch mit Colin mich innerlich zerfressen hatte. Aber er hatte mir Zeit gestattet, wie die
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