Dornenkuss - Roman
anderen es gestern getan hatten, es war sogar in seinem Sinne, dass ich nichts überstürzte.
Nach der Siesta schwamm ich mehrmals weit hinaus, wie immer der einzige Mensch abseits der Uferzone, denn ich passte stets eine günstige Gelegenheit ab, ohne die anderen in die Fluten abzutauchen. Nur so konnte ich ungestört die Quallen beobachten oder mich treiben lassen, meine Hände und Füße kühl und das Gesicht warm, gleißendes Sonnenlicht auf meinen geschlossenen Lidern. Es nährte mich.
Als es endlich so weit war und Colin und ich nach einer schweigsamen Autofahrt die Pianobar betraten – etwas später als am Vorabend, aber wie ein normales Paar, nämlich Hand in Hand, und Colin satt, ich hungrig, da ich vor Erregung nichts hatte essen können –, fühlte ich mich, als würde ich nach Hause kommen. Ich mochte diesen Platz, ich mochte ihn sogar noch mehr, als ich es gestern schon getan hatte. Die Tische waren gut besetzt, es herrschte allgemeiner Trubel, vielleicht war eine Touristengruppe angereist, ich hörte englisches Geschnatter und lautes Lachen, wer konnte hier schon schlecht gelaunt sein?
Mein Magen machte einen kleinen Hopser, als ich Angelo entdeckte. Er saß mit dem Rücken zu uns am Klavier, auf den Beinen ein Bündel Noten, das er durchblätterte. Sein linkes Knie wippte im Takt der Musik, die aus den Boxen dröhnte, wieder irgendetwas Weichgespültes auf Italienisch, was ich in dieser gelösten Stimmung um mich herum sogar ertragen konnte.
Dieses Mal konnten Colin und ich uns nicht in eine versteckte Ecke zurückziehen, da nur noch wenige Tische frei waren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns in der Mitte der Bar niederzulassen, gut sichtbar für alle anderen und leider ohne direkten Blick auf Angelo. Der hochgeklappte Deckel des Pianos verbarg ihn.
Ich setzte mich auf meinen Korbstuhl, doch Colin blieb stehen und ließ seine Augen wandern, als habe er etwas gespürt oder gehört, kein Wittern, sondern vielmehr eine Irritation, sehr menschlich, was wiederum mich irritierte.
»Was ist?«, fragte ich gedämpft. »Noch ein Mahr?«
Er setzte sich neben mich und schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist eher …« Wieder lauschte er. Ich blickte mich alarmiert um. Ein paar Meter abseits von uns standen zwei Frauen auf und sahen zu uns herüber. Nein, sie sahen nicht nur zu uns herüber – sie gafften uns an. Ging es etwa jetzt schon los? So gerne ich auch allein war und sosehr ich Menschenmassen verabscheute, an diesem Abend sollten sie bleiben, bitte. Keine neuen Fluchten wegen uns. Colin war gesättigt, selbst Gianna hatte sich vorhin näher an ihn herangewagt als sonst. Es gab keinen Grund, vor ihm davonzulaufen. Doch die beiden Frauen nahmen nicht Reißaus, sie kamen sogar näher, tuschelnd und gestikulierend, die eine beruhigend, die andere sichtlich aufgewühlt.
»Oh my god …«, murmelte Colin, sein Blick nicht minder fassungslos als der Gesichtsausdruck der einen Frau; ich schätzte sie auf Mitte vierzig, vielleicht sogar älter, insgesamt eher unauffällig. Schwarze, kurze Haare mit grauen Strähnen, figürlich ein wenig aus dem Leim gegangen, auffallend große, dunkle Augen. Was mich an der Situation aber am meisten frappierte, war, dass Colin englisch geredet hatte. Dass er gälisch sprach, ja, das kannte ich, und ebenso sein italienisches Gefrotzel mit Gianna. Doch ich hatte ihn nie zuvor Englisch sprechen hören. Es musste mit dieser Frau zu tun haben, die nun näher kam, ohne ihre Begleitung, in zögernden kleinen Schritten, ihr dunkler Blick auf Colins Hinterkopf gerichtet. Noch einmal murmelte Colin etwas Englisches. Es klang fast verzweifelt.
Ich kapierte gar nichts mehr. Ich war mir nur in einem sicher: Diese Frau war kein Mahr. Sie war eine ganz normale Frau kurz vor den Wechseljahren, sie hatte nichts Mystisches an sich, sie war sicher eine nette und patente Person, aber nichts, was einen zu britischen Stoßgebeten veranlassen konnte. Nun kam sie neben unserem Tisch zum Stehen und tippte Colin vorsichtig auf die Schulter. Sein Gesicht nahm eine unverbindliche Höflichkeit an, während er sich zu ihr umdrehte.
»Entschuldigen Sie bitte«, sprach die Frau ihn in einem kultivierten Englisch an, das ich mühelos verstehen konnte. »Ich wollte nur …« Sie stockte. »Oh my god«, flüsterte nun auch sie.
Meine Ungeduld begann mich wütend zu machen. Würde mir endlich mal jemand sagen, was hier vor sich ging? Ja, Colin sah anders aus als die meisten Menschen, aber
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