Dornenkuss - Roman
er auch ihr einst die Tränen von den Wangen gepflückt … wie damals bei mir … Er war derjenige, der mich heute Abend in Gefahr brachte. Nicht Angelo. Das alles tat mir furchtbar weh.
Ich stand auf, drehte mich um und ließ mich von der Musik zu Angelo treiben; solange er spielte, konnte er mir nichts anhaben, also konnte ich ihm auch zuschauen. Ich fand Frauen blöd, die Musiker umschwirrten wie die Motten das Licht, und Groupies, die bei Konzerten in der ersten Reihe Hüften schwenkten und Slips warfen, erst recht – vor allem, nachdem wir gerade einer Frau begegnet waren, die genau das in ihren Jugendjahren getan hatte, bei meinem eigenen Freund, aber heute wollte ich ein Auge zudrücken. Es war besser, bei Angelo am Piano zu stehen, als Colin beim Wiedergutmachen seiner vergangenen Fehler zuzuschauen.
Dummerweise war der Song schon nach wenigen Takten zu Ende, die Leute klatschten und ich lehnte wie bestellt und nicht abgeholt am Flügel, damit beschäftigt, all die Eindrücke zu sortieren, die Angelo mir lieferte. Ja, seine Augen waren wie gemalt und trotzdem derart lebendig, dass sie sogar aus dem Halbdunkel heraus aufleuchteten. Dieses unglaubliche Türkis … Seine Klamottenauswahl: exzellent. Ich konnte gar nicht genau sagen, was er anhatte, so stimmig war die Harmonie zwischen ihm und dem, was seinen schlanken Körper verhüllte. Er war ein Gesamtkunstwerk, aber zu lässig und natürlich, als dass es aufgesetzt wirken konnte.
»Ärger?«, fragte er auf Deutsch – ein reines, akzentfreies Deutsch übrigens – und sah zu mir auf. Bemerkt hatte er mich vermutlich schon lange.
»Ach, das Übliche«, antwortete ich trocken. »Unsterblichkeit, alte Beziehungskisten und so weiter. Was Mahre eben so mit sich bringen.«
Er verkniff sich ein Grinsen, doch das hätte er nicht tun müssen. Es war wie ein kühler Schluck Wasser an einem heißen Tag, wenn er lächelte, ich hätte gerne mehr davon gekostet.
»Hey, ich muss hier noch ein paar Stunden spielen, ich habe heute Abend keine Zeit zum Reden.«
Autsch. Sein erster Grischa-Satz. Natürlich ein Grischa-Satz. Wie hatte ich annehmen können, er habe keine Grischa-Sätze auf Lager? Tschüss, Ellie, ich hab keine Zeit für dich, was wahrscheinlich so viel bedeutete wie: Ich hab kein Interesse an dir und deinen Problemen.
»Alles klar, schon gut.« Immerhin schaffte ich es, meinem Satzfragment einen gleichgültigen Tonfall zu verleihen. Ich würde doch Tillmann anrufen müssen und hoffen, dass er mir meinen nächtlichen Fauxpas endlich vergab. Sonst würde ich diesen Abend nicht überstehen, ohne jemanden umzubringen. Ich wollte mich schon von Angelo wegdrehen, als er plötzlich weiterredete.
»Kennst du die Tankstelle oberhalb der Piano dell’Erba, an der Landstraße?«
»Meinst du mich?«, hakte ich sicherheitshalber nach. Er nickte und nun lächelte er doch. Sofort ging es mir besser.
»Ja, dich, wen sonst? Weißt du, wo sie ist?« Ich nickte ebenfalls. »Allora, links hinter der Tankstelle führt ein schmaler Weg den Berg hinauf und zu meinem Haus. Es ist schon etwas älter und liegt hinter einem kleinen Olivenhain. Ich habe morgen Abend frei, wenn du magst, kannst du vorbeikommen. Bring Colin ruhig mit.«
»Okay«, erwiderte ich zurückhaltend. »Mal sehen.«
Angelo war mit seinen Gedanken schon wieder beim Klavier und seinem Job, durchforstete mit gesenktem Haupt ein paar Noten. Thema abgehakt. An dem kribbelnden Schauer in meinem Nacken erkannte ich, dass Colin an unseren Tisch zurückgekehrt war und mich beobachtete. Doch noch wollte ich nicht zu ihm zurück. Gratulation, Ellie, beglückwünschte ich mich stattdessen. Das war definitiv kein Grischa-Satz gewesen, selbst wenn Angelos Angebot nicht unbedingt verlockend klang. Ein altes Haus hinter einer Tankstelle an einer Schnellstraße. Wenn schon ein Italiener zugab, dass sein Haus alt war, musste es uralt sein, mehr eine Ruine als ein bewohnbares Gebäude, aber diese Einladung war ein weiterer Strohhalm in meiner Hand, nein, es war ein ganzes Bündel. Er ahnte, dass ich reden wollte, und er war bereit dazu.
Mit verschwommenem Blick sah ich zu, wie einer der blendend gelaunten Kellner sich uns näherte. Sofort entstand zwischen ihm und Angelo ein kurzer, geselliger Wortwechsel. Wenn ich korrekt übersetzte, hatte Angelo sich gerade einen Espresso bestellt.
»Einen Espresso?«, sprach ich meine Gedanken laut aus. »Du trinkst einen Espresso?« Ich fand das irgendwie komisch. Ein
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