Dornenkuss - Roman
verdrossen. Weil ich vielleicht noch einen Überrest von Intelligenz besaß? Ich hatte mich spontan über Angelos Einladung gefreut – bis ich über die Sache mit dem Haus hinter der Tankstelle nachgedacht hatte. Die Umschreibung seines verehrten Anwesens hatte mir die Lust genommen, ihn zu besuchen. Gleichzeitig wusste ich, dass ich mir eine wichtige Chance entgehen ließ, wenn ich es nicht tat. Was hatte Tillmann damals zu mir gesagt, als ich ihn wegen Colin um Rat gefragt hatte? Dass ich mir von anderen niemals vorschreiben lassen dürfe, wie ich meine Entscheidungen zu fällen hatte.
Nur diesem Ratschlag hatte Colin es zu verdanken, dass ich ihn eines Nachmittags besucht hatte, ebenfalls in seinem Haus, mitten im Wald, weitab von anderen Menschen. Wieder einmal wurde mit zweierlei Maß gemessen – jedoch mit dem bedeutenden Unterschied, dass ich nun wusste, was es mit den Mahren auf sich hatte. Damals hatte ich gehofft, dass Colin harmlos war. Wäre ich zu ihm gegangen, wenn ich gewusst hätte, dass er ein Cambion war? Nein, ich durfte Angelos Angebot nicht annehmen.
»Ich will noch leben«, beendete ich mein verbissenes Schweigen mit fester Stimme. Colin spürte, dass es die Wahrheit war, und die eisige Wand, die sich während des Streits zwischen uns gebildet hatte, begann zu bröckeln. Er griff zur Seite, ohne mich anzusehen, und legte meine Hand in seine, nicht nur zärtlich, sondern auch mahnend, als würden wir etwas besiegeln.
Doch sein Hunger nahm uns die Gelegenheit, uns näherzukommen. Louis tänzelte unruhig im Garten auf und ab; er verstand nicht, wieso sein Besitzer ihn so lange allein gelassen hatte, und verlangte nach Bewegung. Colin und ich würden uns erst nach dem Treffen mit Charlotte wiedersehen. Ich musste untätig verharren, während er in der Vergangenheit wühlte und Lügen erfand, um eine Frau zu trösten, die ihn immer noch vermisste. Ich wusste nicht, wie ich bei diesen Bildern in meinem Kopf Ruhe finden sollte.
Zu meiner Verwunderung aber wurde sie mir schneller geschenkt, als ich erwartet hatte. Gianna, Paul und Tillmann waren heute Abend ebenfalls ausgegangen und noch unterwegs, das Haus empfing mich still und leer, doch es ängstigte mich nicht. Es war besser, allein zu sein, als ständig Giannas unbegründete Furcht und Tillmanns Unmut mir gegenüber fühlen zu müssen. Eine Weile hörte ich verträumt dem Summen und Röhren des Kühlschranks zu, während ich einen Rest der Nudeln von heute Mittag aufwärmte, nur ein kleiner Mitternachtssnack.
Ich brauchte nicht viel Nahrung bei dieser Hitze. Gianna und die anderen griffen seit unserer Quarantäne zu wie Sumoringer – Gianna war sogar etwas runder im Gesicht geworden, was ihr gut stand –, aber ich beschränkte mich auf Obst, Salat, viel Wasser und ein warmes Mittagessen, dazwischen allenfalls italienische Kekse und ab und zu einen Kaffee. Klapprig wurde ich deshalb nicht; das ausgiebige Schwimmen hatte meine Muskeln gestrafft und meinen Rücken biegsam und stark werden lassen.
Diese Nudeln zu später Stunde waren eine reine Genussmahlzeit, nichts gegen den Hunger. Umso mehr zelebrierte ich sie. Ich zündete mir sogar eine Kerze an und ließ das künstliche Licht aus, um keine Insekten anzulocken.
Dann nahm ich eine kühlende Dusche im Freien, legte mich mit nasser Haut in mein Bett, die Läden weit offen, und schaute in den schwarzen Sternenhimmel, bis der Skorpion neben mir auf die Wand kroch und das Lied in meinem Kopf mich in den Schlaf wiegte.
No need to laugh and cry. It’s a wonderful, wonderful life.
S TIPPVISITE
The same procedure as every year, dachte ich, als ich mich am späten Nachmittag aus dem Haus stahl, während die anderen noch schlummerten, und statt Angst überwog einen Moment lang die Belustigung. Wieder einmal suchte ich an einem Sommertag verbotenerweise einen Mahr auf. Immerhin hatte ich Erfahrung in dem, was ich tat, und im Vergleich zum vergangenen Jahr konnte ich jetzt schon schwören, dass Angelo nicht rücklings über mir an der Decke hängen würde, wie Colin es getan hatte.
Als ich morgens aufgewacht war, trotz meiner Eifersucht erholt und mit einem leichten, klaren Gefühl im Kopf, war mir der kleine Zusatz wieder eingefallen, den Angelo angefügt hatte. »Bring Colin ruhig mit.« Ich hatte mich zu sehr bei der Sache mit der Tankstelle aufgehalten, um diesen Worten Bedeutung beizumessen, aber nun waren sie für mich genau die Ermutigung, die ich brauchte, um Angelo doch
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