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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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aufzusuchen. Wenn er Böses beabsichtigte, hätte er so etwas nicht gesagt. Nun – erst einmal wollte ich das Haus begutachten, dann würde ich weitersehen. Als weitere Vorsichtsmaßnahme hielt ich mich nicht an die verabredete Tageszeit.
    Ich hatte lange überlegt, ob es gefährlicher war, morgens, mittags, nachmittags oder abends bei einem Mahr aufzutauchen. Colin konnte ich schlecht als Anhaltspunkt nehmen, er ernährte sich unregelmäßig und versuchte, bei Jagdglück so viel Traumstoff zu rauben, dass er ihn möglichst lange satt hielt, ein ständiger Wechsel aus Völlerei und Hunger. Aber die riskantesten Situationen zwischen uns hatte es abends gegeben, wenn er den Tag und die Nacht zuvor nichts oder nichts Nahrhaftes zu sich genommen hatte. Es war ein schwacher Anhaltspunkt, der vielleicht kaum etwas taugte, aber einen anderen hatte ich nicht. Außerdem kam mir die Nachmittagshitze wie ein Schutzschild vor, gerade weil sie so gnadenlos war und die Menschen lethargisch machte. Ich selbst begann sie zu mögen, fühlte mich gut darin. Es spielte schließlich nicht nur eine Rolle, in welchem Zustand Angelo sein würde, sondern auch, welche Kräfte mich beflügelten.
    Ich empfand mich weder als schwach noch machtlos, als ich aufbrach. Was mir am Anfang frevelhaft erschien – nämlich Colins und meine Abmachung zu brechen –, war jetzt ein notwendiger Schritt, den ich auf meinem Weg nicht auslassen konnte. Ich musste ihn gehen. Mir war nicht leicht ums Herz, aber hatte ich in den vergangenen Wochen nicht schon weitaus gefährlichere Situationen durchgestanden? Colin hatte von einer Immunität gesprochen, eine Immunität, die sich keiner von uns schlüssig erklären konnte, doch wenn es sie gab – und alles sah danach aus –, hatte ich nichts zu befürchten. Sollte es keine Immunität geben, war da immer noch meine Intuition, die mich bislang nie im Stich gelassen hatte. Ich würde es spüren, ob ich dieses Haus betreten sollte oder nicht.
    Als ich vergangenes Jahr in den Wald zu Colin gegangen war, war ich mir wesentlich lebensmüder vorgekommen als jetzt. Jetzt tat ich nur, was jeder getan hätte, der auf der Suche nach seinem Vater war.
    Dennoch hatte ich Colin einen Zettel auf seinem Lager hinterlassen. »Verzeih mir, ich konnte nicht anders.« Mehr gab es nicht zu sagen, falls er früher nach Hause kam und meine Abwesenheit richtig deutete (was ich nicht glaubte, obwohl mir ein handfester Streit wegen meiner Einzelunternehmung lieber gewesen wäre als der Gedanke, dass er den ganzen Abend mit Charlotte verbrachte).
    Die Tankstelle war zu Fuß problemlos zu erreichen, schon nach zehn Minuten war ich da. Was für ein Zufall, dass ganz in unserer Nähe ein Mahr hauste und wir bisher keine Notiz davon genommen hatten, nicht einmal Colin. Doch er hatte erwähnt, dass Angelo eine sehr schwache Aura habe. Wir hatten ihn nicht bemerken können.
    Hinter mir jagten die Autos röhrend über die glühend heiße Straße, während gleichzeitig ein Zug vorbeiratterte, ein ohrenbetäubender Lärm, der sogar das Zirpen der Zikaden übertönte. Ich entdeckte den »schmalen Weg« sofort. Angelo hatte tiefgestapelt. Es war immerhin eine befahrbare Straße, zwar ungeteert, aber in ordentlichem Zustand. Ich ging gemächlich, um meine Kräfte zu schonen und auf mein Bauchgefühl zu lauschen. Ja, ich hatte ein Flirren in der Magengegend und ich hätte nichts essen können, doch blinde Panik oder eine Vorahnung besaß andere Qualitäten.
    Als ich die knorrigen Olivenbäume erreichte, blieb ich ein letztes Mal stehen. Eigentlich war das unsinnig. Mahre konnten Beute von Weitem wittern. Wenn er mich ausrauben oder töten wollte, hatte er mich längst entdeckt und dann würde es auch nichts nützen, wenn ich umkehrte und floh. Er wäre schneller. Meine Neugierde, die das schlechte Gewissen Colin gegenüber längst übertrumpft hatte, trieb mich sowieso dem Haus entgegen, das, wie Angelo gesagt hatte, zwar alt war, aber nicht zerfallen. Eine mannshohe Mauer, bewachsen mit dunkelrot blühenden Blumen, schützte das Anwesen vor neugierigen Blicken, sodass ich nur die obere Etage erspähen konnte, doch was ich sah, gefiel mir, wenngleich die Fassade einen neuen Anstrich vertragen konnte. Dieses Haus hätte eine ideale Hollywoodkulisse abgegeben, für intelligente Romanzen und Selbstfindungsfilme, nicht für Horrorstreifen. Es hatte Charme. Ich musste grinsen, als ich erkannte, dass auf der Brüstung der Veranda ein großes buntes

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