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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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gelernt, damals noch mit dem Nachnamen Larsen, im Jahr darauf dann Veum – heute heißt sie Wiik. Und Lisa ging noch nicht in die Schule. Als sie zehn Jahre alt war, war ich schon zum ersten Mal in Kopenhagen gewesen, für das Jugendamt, und hatte ein Mädchen, das so alt war, wie sie jetzt, nach Hause geholt – und Lisa war zehn gewesen und in die Grundschule gegangen. Und jetzt …
    Jetzt saßen wir beide in einem anonymen Hotelzimmer in einer Großstadt mit Janus-Gesicht. Tivoli, Tierpark und fröhliche Touristen auf der einen Seite, Drogenmissbrauch, Prostitution und Tod auf der anderen. Unsere Wege hatten sich plötzlich gekreuzt, auch wenn keiner von uns beiden darüber besonders erfreut war.
    Der Sturm in ihr legte sich. Sie saß mit erschöpftem Gesichtsausdruck da, wie nach einer Geburt. Ihr Haar war verschwitzt und zerzaust, ihr Gesicht hatte rote Flecken, ihre Augen waren rotgerändert und blickten starr. Sie sah von ganz unten irgendwo kurz zu mir auf und fragte: »Hast du eine Zigarette?«
    Ich sagte: »Nein, aber ich kann welche bestellen.«
    Sie nickte.
    Ich rief in der Rezeption an und fragte, ob jemand mit einer Packung Zigaretten und einer Schachtel Streichhölzern zu uns raufkommen könnte. Es kam derselbe Mann, der uns schon den Kaffee gebracht hatte. Er sah Lisa verwundert und mich skeptisch an. Ich begleitete ihn zur Tür und sagte leise: »Sie hat Probleme.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Wer hat die nicht?« Auf seine knappe Weise war das auch eine Art Lebensphilosophie.
    Lisa öffnete geübt die Zigarettenpackung, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie mit zittrigen Fingern an. Sie sog den Rauch ein, und es war mir schleierhaft, wo er blieb, denn er kam nicht wieder heraus. Ihre Lungen mussten völlig durchlöchert sein.
    Mit der Zigarette fand sie ein Stück von sich selbst wieder. Langsam sah ich, wie ihre Gesichtszüge, die von dem heftigen Weinen ganz aufgeweicht waren, wieder starr wurden, hart und undurchdringlich.
    Aber das Zittern ihrer Hände und die unkontrollierten Zuckungen ihres Körpers konnte sie nicht verbergen. Ich wusste, es ging ihr nicht gut. Ich nahm an, sie hatte ihre letzte Spritze am Nachmittag bekommen, bevor sie »zur Arbeit« ging. Ich wusste nicht, wie abhängig sie war, wie lange sie schon an der Nadel hing, aber ich nahm an, dass sie schon begonnen hatte, den unbarmherzigen Sog in sich zu spüren. Ich nahm sogar an, dass die Wellen in ihrem Inneren schon ziemlich hoch schlugen. Der Flug am nächsten Morgen würde ein Albtraum für sie werden, und sie würde mehr tot als lebendig in Bergen ankommen. Aber in jedem Fall gab es einen freien Platz in der psychiatrischen Klinik für sie, und außerdem jemanden, der ihr durch die erste furchtbare Zeit helfen würde – durch die erste, endlose Nacht, eine zweiwöchige oder dreiwöchige Nacht, je nachdem – und dann, wenn sie Glück hatte, wieder hinaus in den Tag. Und das, was all die Anstrengung, all die Qual mit Sinn erfüllte, war, ich wusste, dass dieser Tag, wenn sie es denn schaffte, um so vieles heller und klarer als irgendein Tag sein würde, den sie je erlebt hatte. Sie würde die Sonne stärker und wärmer spüren, das Grün der Bäume und des Grases würde intensiver, der Himmel würde so blau sein – und sie würde sich verliebt fühlen, offen, verliebt und glücklich. Sie würde ihr Schicksal preisen, und vielleicht würde sie auch für den Bruchteil einer Sekunde einen dankbaren Gedanken zu Veum, dem Willigen schicken: immer zur Stelle, wenn Sie rufen, nimmt Schläge dankbar entgegen …
    Die Glut fraß die Zigarette so schnell auf, dass man dabei zusehen konnte, und sie steckte sich eine neue an. Etwas von dem Rauch musste sich hinter ihren Augen sammeln, denn sie wurden merkwürdig trüb. Aber durch den grauen Nebel sah ich etwas Hartes und Zynisches schimmern, das zu einer fünfzigjährigen Hure passte, aber nicht zu einem sechzehnjährigen Mädchen. Und ich wusste, dass sie mich hasste – weil ich sie schwach gesehen hatte, sogar zweimal.
    Ich wusste, dass sie mich hasste, und ich wusste, dass ich keine Sekunde schlafen durfte, dass ich es mir gut überlegen musste, bevor ich zum Pinkeln rausging, und dass ich ihr am besten nicht einen Augenblick den Rücken zukehrte.
    Ich sagte: »Wir müssen morgen früh aufstehen, Lisa. Du solltest schlafen gehen.«
    Es blitzte in ihren Augen auf. »Und wo gedenkst du zu liegen?« Sie brauchte noch nicht einmal das verächtliche »du geiler

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