Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
wir uns, als seien wir blutsverwandt und sprachen kein Wort miteinander.
    Ein Mann in einer weißen Jacke kam mit den Broten und dem Kaffee. Er deckte den kleinen runden Serviertisch für uns, goss Kaffee in zwei weiße Kaffeetassen und fragte, ob wir Zucker oder Sahne wünschten. Lisa antwortete nicht und ich sagte: »Nein danke, heute nicht.«
    Dann verschwand er, und wir gingen zum Angriff auf die belegten Brote über. Sie waren auf diese übertriebene dänische Weise dekoriert und erinnerten eher an Blumengebinde als an Brote. Die Auflage stapelte sich in die Höhe und in die Breite, als gelte es, eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, und wenn man hineinbiss, spürte man die Auflage weit die Wangen hinauf und fast bis zu den Ohren.
    Lisa schlürfte ihren Kaffee, schubste demonstrativ den ganzen Belag von ihrem Brot und aß es trocken. Sie starrte auf die Tischdecke. Sie war blau.
    Die Wände waren weiß, und auf dem Bett lag ein Überwurf mit einem Muster aus großen Rosetten in Blassblau und Weiß. An einer Wand hing ein Bild, das einen Bauernhof zeigte. Ein Ehepaar stand dort und sah auf einen Hund hinunter, der fröhlich an ihnen hochsprang – stilistisch ein später Disney.
    Ich sagte: »Was ist eigentlich los?«
    Sie starrte auf die Tischdecke und antwortete nicht.
    Also fuhr ich fort: »Ich frage nicht aus Neugierde, oder weil ich es deinen Eltern weitererzählen will oder den Bullen oder sonst irgendjemandem. Ich frage, weil ich dir gern helfen will. Wenn ich kann.«
    Zum ersten Mal, seit wir das Hundehaus verlassen hatten, sah sie mich an. »Wer hat Sie geschickt?«, fragte sie. Ihr Blick war voller Misstrauen, als wolle sie sagen, auch wenn ich antwortete, müsste ich dennoch nicht denken, dass sie mir glauben würde.
    »Dein Vater. Er kam gestern Morgen in mein Büro, weil er und deine Mutter sich Sorgen machten, wo du geblieben warst …«
    »Ha!«
    »Und weil sie nicht die Polizei einschalten wollten. Ich habe es so verstanden, dass du – dass du schon mal mit ihnen zu tun gehabt hast. Sie haben eine Einweisung für dich bewirkt, wenn du – gesund werden willst.«
    »Gesund? Mir fehlt gar nichts! Aber ihnen fehlt was! Sie sind beide krank. Geisteskrank.«
    Ich sagte: »Fühlst du dich – ganz fit?«
    Sie antwortete nicht.
    »Deshalb setzt du dir also die Spritzen?«
    »Sp-spritzen?«
    »Ich habe die Einstiche an deinen Schenkeln gesehen, Lisa. Ich sehe so was nicht zum ersten Mal. Sie sprechen eine deutliche Sprache.«
    »Was zum Teufel hast du mir auf die Schenkel zu glotzen, altes Schwein!«, rief sie heftig und fegte vier Brote auf den Boden, schmiss die Kaffeekanne und ihre eigene Tasse um und brach in Tränen aus. Ihr Gesicht wurde dunkelrot, und die Tränen schossen ihr aus den Augen.
    Ich erhob mich stumm und sammelte die Reste der Blumendekoration vom Boden auf, stellte die Kaffeekanne und die Tasse wieder an ihren Platz, sah mich nach einem Wischtuch um, fand aber keins und holte stattdessen ein Handtuch aus dem Bad.
    Ich ließ sie weinen: ein heftiges, kindliches Weinen – wie das eines kleines Mädchens, dem jemand die schönste Puppe kaputtgemacht hatte oder das die Schokolade nicht bekommen hatte, auf die es gezeigt hatte.
    Ich betrachtete sie. Ihr kindliches Weinen unterstrich noch, dass sie genau das war: ein Kind, eine kleine Frau, die gerade sechzehn geworden war. Vor ein paar Jahren war sie ein kleines Mädchen in einem Hauseingang gewesen oder an einem Gartenzaun oder in einer Ecke des Schulhofes. Noch ein paar Jahre vorher hatte sie in der Sandkiste gesessen oder war vor Freude jubelnd eine Rutsche hinuntergerutscht. Vor wenigen Jahren war sie wirklich noch ein kleines Kind gewesen. Wenn sie gelacht hatte, hatte sie gelacht – und wenn sie geweint hatte, hatte sie geweint. Wenn sie jetzt lachen würde, dann wäre es ein hysterisches Lachen – und als sie weinte, war das Weinen ein einziger Krampf.
    Schließlich hatte sie keine Tränen mehr, weinte aber immer noch. Ihr Körper schnappte nach Luft. Die trockenen Schluchzer kamen aus der Magengegend, aus dem zerzausten Unterleib, in den so viele Männer mittleren Alters ihren Fühler gesteckt hatten.
    Sechzehn armselige Jahre war sie alt. Als sie geboren wurde, war ich einundzwanzig gewesen und weit, weit weg, an Bord eines Schiffes, das ›Bolero‹ hieß und in die Staaten fuhr. Als sie fünf war, war ich sechsundzwanzig und ging auf die Hochschule für Sozialwesen in Stavanger und hatte gerade eine Frau mit Namen Beate kennen

Weitere Kostenlose Bücher