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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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und das sagte ich ihr.
    Dann drehte sie mir demonstrativ den Rücken zu und begann, sich auszuziehen. Ich sagte: »Du brauchst dich nicht …«
    Sie drehte sich abrupt um. »Warum nicht? Hast du Angst, dass du geil wirst?« Sie zog sich den Pullover über den Kopf und hielt mir ihre kleinen Brüste entgegen. »Guck mal!« Sie rollte sich die Hose herunter, aber bevor sie sich den Slip auszog, schien sie sich plötzlich zu besinnen und wieder war eine Andeutung von Tränen in ihren Augen. Brust und Bauch zuckten heftig und die blauen Flecken auf ihren Schenkeln starrten mich wie leere Augenhöhlen an. »Bitte! Gib mir einen Schuss …«
    Das Schlimme an drogenabhängigen Menschen ist, dass ihnen jegliches Schamgefühl verloren gegangen ist. Gerade noch haben sie dich beschimpft, und jetzt liegen sie vor dir auf den Knien. Gerade noch haben sie dich so sehr gehasst, dass sie dich hätten töten können, und jetzt sind sie willig, dich von heute bis in alle Ewigkeit zu lieben, wenn du ihnen nur bald einen Schuss besorgst.
    Ich wiederholte geduldig: »Geh schlafen, Lisa. Es tut mir wirklich Leid. Ich weiß, dass es dir verdammt dreckig geht, aber ich kann dir absolut nichts geben. Ich habe nichts, was ich dir geben könnte.«
    Wäre ich Polizist gewesen, hätte ich sie mit Handschellen an das Bett fesseln können, aber ich hatte nur ein Buch über einen CIA-Agenten und seine Frau, und das würde sie wohl kaum fesseln.
    »Du bist ein verdammtes Arschloch!« Ihre kleinen Brüste tanzten, als sie herumfuhr. Sie sah sich verzweifelt nach etwas um, das sie nach mir werfen konnte, fand aber nichts. Stattdessen trat sie gegen den kleinen Tisch, sodass beide Tassen, die Kaffeekanne und der Rest der belegten Brote auf dem Boden landeten. Ich stand auf und trat auf sie zu. Ihre Augen blitzten mir entgegen. »Rühr mich nicht an! Halt deine dreckigen Hände weg!«
    Sie wich zurück, bis sie an die Wand stieß. Wie ein gefangenes Tier starrte sie mich an, und es war wirklich etwas Wildes in ihrem Blick. Wenn ich die Hand ausstreckte, würde sie beißen.
    Ich zeigte auf das Bett. »Geh schlafen, Lisa! Geh schlafen!«
    Dann ließ sie die Schultern wieder hängen. Plötzlich hatte sie begriffen, dass es keinen Sinn hatte. Sie behielt den Slip an, krabbelte ins Bett und, so weit sie konnte unter die Decke, drehte mir demonstrativ den Rücken zu und krümmte sich um ihre Hände und ihre Schenkel zusammen.
    Ich stellte den Tisch wieder hin, räumte die Reste der eindrucksvollen Abendmahlzeit zusammen, ging auf die Toilette und füllte Wasser in eine Kaffeetasse, ging wieder zu meinem Ohrensessel und setzte mich hinein.
    Ich saß da und betrachtete die Wand über ihr, die Konturen ihres Körpers unter der Decke, sah durch die Wand nach draußen, in die Nacht: Immer die gleichen Schicksale, die verzweifelten, frühreifen Kinder, die hilflosen Eltern, die Huren und die Zuhälter, die Verlierer und die, die daran verdienen. Und ich wusste, dass es keinen Sinn hatte zu denken, dass es keinen Sinn hatte zu reden. Das einzige, was half, war handeln. Das einzige was half, war dorthin zu fahren, wieder und wieder, bis es keinen mehr zu holen gab, bis es keine Istedgade mehr gab und keinen Grund mehr, an solche Orte zu fahren.
    Lisa lag im Bett wie ein Panther auf dem Sprung. Ich wusste, wenn es eine Lücke gäbe, würde sie springen.
    Ich glaubte keine Sekunde, dass sie schlafen würde. Ich wusste, dass sie wartete. Ich schlug mein Buch ungefähr auf Seite 50 auf und begann zu lesen.

5
    Aber sie musste doch geschlafen haben. Und ich auch. Denn das Letzte, woran ich mich erinnere ist, dass der CIA-Agent dalag und seine Frau neben sich atmen hörte, ohne selbst einschlafen zu können. Ich musste vor ihm eingeschlafen sein, denn dann weckte mich der Schrei.
    Es war ein gellender, elektrischer Schrei; es war eine wilde Lokomotive, die schrie, während sie mit 200 Stundenkilometern aus einer Tunnelöffnung schoss; es war der Schrei einer Möwe, die von einem herabstürzenden Düsenflugzeug zermalmt wird; der Schrei eines Schakaljungen, das von einer Horde Elefanten zertrampelt wird; es war der Schrei einer Sechzehnjährigen, die von Entzugssymptomen geschüttelt wurde.
    Ich warf Arme und Beine in die Luft, riss die Augen auf und wurde von dem grellweißen Licht geblendet. Der Schrei kam auf mich zu, wie von tausend schmerzenden Fingern getragen, und etwas schlug mir ins Gesicht und gegen die Brust, trat gegen meine Beine und Knie. Ich schützte mich

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