Dornröschengift
seiner Mutter sagte , lachte sie und legte ihre Hand auf seine Schulter. Noch hatte e r mich nicht gesehen . Ich hatte nicht gemerkt, dass ich in seine Richtung starrte, bi s meine Mutter fragte: »Kennst du den Jungen dort? « Ich zögerte kurz . Was sollte ich sagen ? Mam, Pa, hört mal, das ist mein Freund Finn . Freund ? Nein! Völlig unmöglich ! Vielleicht: Mam, Pa, darf ich vorstellen? Das ist Finn, der Junge , von dem ich heute meinen ersten Kuss bekommen habe . Unvorstellbar ! Ein Kuss, da musste man doch nicht gleich die Schwiegerelter n kennenlernen ! Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ausgerechnet dieses Res taurant vorzuschlagen? Nun saß ich hier und wusste nicht, wi e ich mich verhalten sollte . Die Lüge kam über die Lippen, bevor ich sie zurücknehme n konnte. »Keine Ahnung, wer das ist. « In der nächsten Sekunde starrte Finn in unsere Richtung un d seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen – er hatte mich gesehen. Hastig sah ich weg. Hoffte, er würde nicht herüber an den Tisch kommen. »Er scheint aber dich zu kennen«, mischte sich Tom ein. Ein iro nisches Lächeln lag in seinen Mundwinkeln. »Quatsch«, erwiderte ich möglichst gleichgültig. In meinem Na cken kribbelte es, mir kam es vor, als ob Finn mich noch immer anstarrte, aber ich wagte nicht aufzublicken. Geh weg, be schwor ich ihn insgeheim. Mach schon! Ich verspreche, ich wer de es dir erklären! Finn verstand offenbar, was in mir vorging, oder empfand er das selbe wie ich? Jedenfalls tat er mir den Gefallen und wandte sich um. Erleichtert registrierte ich, wie er tatsächlich das Restaurant verließ. Gott sei Dank! Mir wurde ganz schwach vor Aufregung. »Nun, auch wenn du ihn nicht kennst«, konstatierte Tom, »er in teressiert sich für dich.« »Tom«, lachte meine Mutter. »Lass sie doch. Siehst du nicht, wie peinlich ihr das ist?« »Genau!«, funkelte ich Tom wütend an. Er grinste herausfor dernd zurück. Wie Mike, schoss es mir durch den Kopf. Für ei nen winzigen Augenblick war er wieder da: der große Bruder. »Ich hör ja schon auf.« Tom hob die Hände. »Aber hey – wenn der Typ zu aufdringlich wird, dann sag mir Bescheid, okay?« Er wandte sich an meine Mutter. »Keine Sorge, ich passe in Zu kunft auf sie auf. Schließlich ist Sofie so etwas wie eine Schwes ter für mich.«
Ich beobachtete die Digitalanzeige meines Weckers. Es war be reits kurz nach elf Uhr am Abend, doch ich konnte nicht ein schlafen. Die Fröhlichkeit und ausgelassene Stimmung des Abends kam mir nun plötzlich übertrieben und falsch vor.
Wie hatten wir feiern können, solange wir nicht wussten, was mit Mike passiert war? Toms Aussage, Mike habe eine Zeit lang verschwinden wollen, kam schließlich reichlich spät. Mein Vater war gut zwei Wo chen in Australien gewesen. Da hätte ihm Tom doch von Mikes Plänen erzählen müssen, oder? Andererseits: Da war Mikes Streit mit Mam vor der Abreise. Vielleicht wollte er sie einfach bestrafen? Aber nein! Es sah mei nem Bruder nicht ähnlich, ohne ein Wort zu verschwinden. Ge nauso wenig wie Lisa. War sie wirklich von zu Hause abgehauen, die brave, ängstliche Lisa? Ich konnte inzwischen selbst nicht mehr glauben, dass ich das gedacht hatte. Meine Hand griff zur Stirn. Die Kopfschmerzen waren stärker als je zuvor. Hatte ich Fieber? Aber schließlich gab es ja jetzt Finn. Immer wieder Finn. Wirklich, ich verstand mich plötzlich weniger als das Package die Gesetze der Physik. Erst hatte ich unbedingt in dieses Res taurant gewollt und dann fürchtete ich, er könne an unseren Tisch kommen. Es war seltsam. Liebe auf den ersten Blick? Klar, das machte sich gut in Romanen, aber ehrlich, konnte man einen Fremden so von heute auf mor gen lieben, sich auf ihn verlassen, ihm vertrauen und sich sehn süchtig wünschen, die Zeit nur noch mit ihm zu verbringen? Ich wälzte mich im Bett hin und her. Bald war mir kalt, dann wieder zu warm. Bisher hatte ich das noch nie empfunden, die sen schrecklichen, intensiven Wunsch, jemanden – Finn – zu berühren, zu umarmen, zu küssen. Konnte das etwas anderes bedeuten, als dass ich verliebt war? Ohne Vorwarnung? Ohne Plan? Bedeutete das Liebe auf den ersten Blick?
Aber warum hatte ich dann abgestritten, ihn zu kennen? Ich knipste das Licht an und griff nach dem Französischbuch. Morgen schrieb Frau Kraushaar den wöchentlichen Verbentest, mit dem sie uns jeden Mittwoch unsere Unwissenheit vor Au gen führen wollte. Ich war gerade dabei, die Zeitformen zu ou blier –
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