Dornröschengift
man sich fühlte, wenn man fünfzehn Jahre al t war. Dennoch – ich wusste, wer meine Eltern waren und wohe r ich stammte. Dieses Haus hier war seit Generationen im Besit z meiner Familie . »Und du darfst wirklich mit Tom auf den Abschlussball?«, fragt e Jamaica nun zum tausendsten Mal . »Ich muss! « »Hast du Finn schon gesagt, dass … « »Nein!«, fauchte ich gereizt . »Huch, bist du heute empfindlich! Aber mit dem spricht jetz t sowieso keiner mehr«, erklärte Jamaica. »Ich habe keine Ah nung, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass er mit Lisa s Tod etwas zu tun hat, doch … « Ich wandte ihr erschrocken den Kopf zu. »Wer sagt das? « »Jeder!« Sie setzte sich auf und sah mich neugierig an. »Angeb lich gibt es einen Zeugen, der Finn an dem Abend im Gespens terwald gesehen haben soll. Mitten in der Nacht und bei diese m Nebel. Außerdem – und das ist echt der Hammer – soll die Poli zei bei ihm gewesen sein. Sie haben angeblich seinen Roller be schlagnahmt, wegen der Reifenspuren! « Ich schnappte nach Luft. »Woher weißt du das alles? « »Steck du nicht immer nur den Kopf in deine Bücher, dann be kommst du auch mit, was in deiner Umgebung passiert. « »Du hast gut reden«, erwiderte ich. »Ich komme doch hier kau m raus. Immer ist Tom dabei, um mich zu bewachen. « Ich stand auf und ging nervös zum Fenster. Draußen bei de n Rosenbeeten arbeiteten Tom und Hendrik, doch ich achtet e nicht auf sie . Die Polizei hatte Finn in Verdacht ! Sie hatten seinen Roller beschlagnahmt. Konnten die das ein fach so machen ? Andererseits: Seit wann glaubte ich alles, was Jamaica erzählte ? Noch dazu, wenn es um Finn ging ? »Oh«, seufzte Jamaica. Sie war neben mich getreten und sah z u Tom hinüber. »Warum kann er nicht mich bewachen? Verspric h mir, dass du dir am Abschlussball den Fuß verstauchst. « »Den Fuß verstauchst? « »Ja! Und dann…« Jamaicas Fantasie schäumte wieder einma l über. »Also ich stehe nur wenige Schritte von dir entfernt un d du flüsterst schwach: ›Oh Tom, ich muss mich für einige Minu ten setzen. Warum tanzt du nicht mit dem hübschen Mädche n dort drüben?‹ « Sie machte ein paar wiegende Tanzschritte . »Meinst du etwa dich mit dem hübschen Mädchen? « »Wen denn sonst?« Sie sah neugierig zu meinem Schrank hi nüber. »Warst du schon mit deiner Mutter das Kleid kaufen? « Ich nickte .
»Welche Farbe?« »Schwarz.« Jamaica stieß einen schrillen Schrei aus. »Wo? Ich muss es un bedingt sehen. Oh, es ist verdammt ungerecht. Du bekommst ein neues Kleid, während ich im Grufti-Teil meiner Mutter über den roten Teppich gehen soll. Stell dir vor, es ist blau!« Sie hielt eine Sekunde inne, um anschließend hysterisch zu wiederho len: »Blau! Mit weißer Spitze! Oh Gott, sie findet es todschick! Genau, das ist es! Tod-schick! Es bedeutet mit Sicherheit mei nen gesellschaftlichen Tod.« Sie rannte zu meinem Kleiderschrank, riss die Tür auf, wühlte zwischen meinen Sachen. »Lisa soll übrigens ihr Abschlussball kleid getragen haben.« »Was?« »Ja, ich habe gehört, wie Valerie es erzählt hat.« Sie lachte. »Ich sage dir, die sind voll abgedreht und die absoluten Heuchler. Je des Wort, das aus ihrem Mund kommt, ist eine Lüge. Früher ha ben sie hinter dem Rücken von Lisa abgelästert und jetzt ma chen sie auf trauernde Witwen. Ehrlich, die sind widerlich.« Ja maica schüttelte sich. »Das ist doch nichts Neues.« »Und dann reden sie immer in ihrer Geheimsprache miteinan der.« Jamaica ahmte perfekt Valeries Tonfall nach. »Lisas Kleid hat ihr Unglück gebracht. Nur eine Närrin trägt ihr Hochzeitsge wand zum Krönungsball. Sie hat sich damit als unwürdig erwie sen.« Sie kicherte. »Carlotta ist danach dramatisch in Tränen ausgebrochen.« »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Krönungsball? Hochzeitsgewand?« »So reden die eben miteinander, wenn sie glauben, es hört ih nen keiner zu.« »Woher weißt du das alles? Die flüstern doch nur miteinander.
Da muss man ja das Gehör einer Fledermaus haben, um quer über den Pausenhof etwas zu verstehen.« »Oh«, grinste Jamaica. »Ich habe meine eigenen Methoden. Oder ist dir nicht aufgefallen, wie viel Zeit ich neuerdings auf der Toilette verbringe? Du glaubst gar nicht, welche Geheim nisse man da erfährt.« Sie lachte laut, stand auf und ging zu mei nem Schrank. »Oh, da ist ja das Prachtstück.« Sie holte tief Luft, als sie das Kleid hervorzog, das sorgfältig in eine Plastikhülle verpackt
Weitere Kostenlose Bücher