Dornroeschengift
gestern Abend nich t heimgekommen ist?«, wollte meine Mutter wissen . »Ihre Eltern waren ausgegangen und haben nicht in ihr Zimme r gesehen, als sie nach Hause kamen. Sie nahmen an, dass si e schlief, und wollten sie nicht stören. «
»Woher weißt du das?«, fragte ich. »Ich musste schon heute Morgen Lisas Mutter ein Beruhigungs mittel geben. Ich habe mit ihr geredet und dann die Polizei ge rufen. Sie haben ziemlich schnell eine Suchaktion eingeleitet. Ich soll mich bereithalten, falls...«Er zögerte kurz. »Falls sie Li sa finden. Offenbar versammeln sich heute Abend einige der Dorfbewohner. Sie wollen sich an der Suche beteiligen.« »Oh, my god! May I help?«, mischte sich Tom ein. Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Du solltest dich erst einmal von der Reise ausruhen.« »Bis wir nicht wissen, was passiert ist«, wandte sich mein Vater an mich, »möchte ich auf keinen Fall, dass du mit dem Fahrrad alleine unterwegs bist. Ich werde dich in der nächsten Zeit zur Schule bringen und wieder abholen.« Das bedeutete eine Rundumüberwachung. Wie sollte ich dann Finn treffen? »Aber Pa, du hast doch nie Zeit!« »Es muss eben irgendwie gehen«, erklärte er. Ich erhob mich. »Willst du nichts essen?«, fragte meine Mutter. »Ich habe keinen Hunger«, sagte ich im Gehen. Diese bescheuerte Lisa, dachte ich boshaft. Vermutlich war sie nur auf und davon, um ihre Träume von einer Karriere als billige Schauspielerin zu verwirklichen. Sie war genau der Typ für so etwas. Ich aber hatte meine eigenen geheimen Wünsche und Träume. Finn und ich – das hatte so verheißungsvoll angefan gen. Nichts und niemand sollte mir mein Geheimnis kaputt ma chen. Und schon gar nicht Lisa.
Im Fischrestaurant
N ur ein einziger Satz. Mit einem einzigen Satz hatte Tom uns Hoffnung gemacht, Mike könne noch am Leben sein, alles sei nur ein schrecklicher Irrtum. Sogar mein Vater wirkte trotz der Ereignisse um Lisa entspann ter und lebhafter als die Wochen zuvor. Innerhalb weniger Stunden war in das alte Gutshaus so etwas wie neuer Lebens mut eingekehrt. Ich hörte meine Mam die Treppe hoch-und runterrennen. Sie war dabei, Mikes Zimmer für Tom herzurich ten. Und wenn mich nicht alles täuschte, hatte sich der Nebel etwas gelichtet und die Sonne zeichnete sich als blasse Scheibe hinter den weißen durchscheinenden Wolken ab. Nach der Aspirin, die ich genommen hatte, schien meine Erkäl tung wie weggeblasen. Ich konnte wieder klar denken und fühl te mich plötzlich völlig frei und unbeschwert. Alles war möglich, oder? Warum sollte Mike nicht zurückkommen? Und die Sache mit Finn – dieses Kribbeln in meinen Fingerspit zen, mein Herzschlag, wenn ich an ihn dachte, der Wunsch, laut zu lachen: Seit Monaten war ich nicht mehr so glücklich gewe sen. Mein Vater schlug vor, wir sollten an diesem Abend zum Essen ausgehen, um Toms Ankunft zu feiern. Zu meiner Überra schung stimmte meine Mutter ohne Zögern zu. Eine lebhafte Diskussion entstand, wo wir hingehen sollten, immer wieder unterbrochen durch Toms Bitte, bloß keine Umstände zu ma chen. Er wäre auch mit einem Sandwich zufrieden.
»Kommt gar nicht infrage«, sagte meine Mutter bestimmt . Ich schaute von einem zum anderen, dann holte ich tief Luft . »Was ist mit dem Fischrestaurant am Geisterwald?«, fragte ich . »Dort gibt es Spezialitäten hier aus der Gegend. « »Das ist eine gute Idee«, kam mein Vater mir zu Hilfe . »I like fish«, erklärte Tom . Es war entschieden .
Der Parkplatz vor dem Restaurant war gut besucht und inne n war kein freier Tisch zu sehen . Eine Frau im Alter meiner Mutter begrüßte uns lebhaft . »Wie viele Personen?«, fragte sie lächelnd . »Vier«, erklärte meine Mutter und wiederholte: »Wir sind z u viert. « War das Finns Mutter ? Ich betrachtete sie aufmerksam. Zu dem schwarzen Kleid tru g sie eine lange weiße Schürze. Ihre halblangen rotblonden Haa re lockten sich über der Stirn wie bei Finn. Ihr Gang war lebhaf t und energisch, als sie uns zu einem Tisch am Fenster führte, au f dem ein Reserviert-Schild stand . Mit einer raschen Handbewegung nahm sie es weg: »Vor fün f Minuten haben Gäste abgesagt. Des einen Leid, des andere n Freud.« Sie lachte laut und unbekümmert . Verstohlen sah ich mich um, aber von Finn war nichts zu sehen . Warum auch, dachte ich. Es war nicht sein Restaurant. Und ic h hing ja auch nicht ständig in der Praxis meines Vaters herum . Von Weitem erkannte ich Jamaicas Mutter. Sie jonglierte in je der Hand
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