Dornroeschengift
Teller, über die jeweils eine silberne Haube gestülp t war. Ich winkte ihr zu und sie nickte freundlich zurück . Auch meine Mutter blickte sich neugierig um. »Wirklich schö n hier.« Sie strich ihr Kleid glatt und setzte sich. Wann hatte ic h sie das letzte Mal so aufgedreht erlebt? Vielleicht hatte mei n Vater recht und Tom brachte sie auf andere Gedanken. Oder – schoss mir der Gedanke durch den Kopf – sie stellt sich einfac h nur vor, es sei Mike, der ihr den Stuhl zurückschob und nun de n Mantel abnahm . »Was kann ich Ihnen zum Trinken bringen?«, fragte Finns Mut ter . Der Kopf meines Vaters verschwand hinter der Getränkekarte . »Eine Flasche Sekt und vier Gläser. Wir haben einen Gast au s Australien, den wir willkommen heißen wollen. « »Aber Sofie . . .«, wandte meine Mutter ein . »Sofie kann in ihrem Alter ruhig einmal einen Schluck Alkoho l trinken«, erklärte er, »nicht wahr, Motte? « Ehrlich gesagt fand ich das auch und Tom kam mir zu Hilfe : »Wenn Sofie keinen Sekt bekommt, verzichte ich ebenfalls« , verkündete er. »Das nennt man Solidarität. « Um nichts in der Welt wollte ich, dass die Stimmung am Tisc h zerstört wurde. Zu lange hatten wir nicht mehr gelacht. Di e düsteren Wolken der letzten Wochen schienen schlagartig ver schwunden . Und obwohl mein Verstand mir sagte, dass dieser eine Satz vo n Tom im Grunde genommen nichts änderte, spürte ich, wie seh r wir gerade jetzt einen Hoffnungsschimmer brauchen konnten . »Übrigens«, meinte Tom plötzlich, »ich möchte Ihnen nicht.. . wie sagt man . . . lästig werden. Ich kann in ein Hotel ziehen. « »Kommt nicht infrage«, erklärten meine Eltern wie aus eine m Mund . »Du kannst so lange bei uns wohnen, wie du willst«, sagte mei ne Mutter. »Mike...er hätte sicher nichts dagegen, wenn du i n seinem Zimmer schläfst. Wir sind es dir schuldig, dass wir un s um dich kümmern, genauso wie du und deine Mutter euch u m ihn.« Und dann fügte sie nach kurzem Zögern hinzu: »Ich bin s o froh, dass du hier bist. «
In diesem Moment erschien Finns Mutter am Tisch mit dem Sekt. Mein Vater hob sein Glas und wir taten es ihm nach. »Herzlich willkommen, Tom!« Das Essen war ausgezeichnet. Meine Eltern und Tom waren be geistert. Ich sagte wenig – mir gingen immer noch die Gescheh nisse des Tages im Kopf herum – , aber Tom bestritt sowieso ei nen Großteil der Unterhaltung. Er war – Mike hatte recht ge habt – ungeheuer neugierig und wissbegierig, was unsere Fa milie betraf. Meine Eltern schienen sich über dieses Interesse zu freuen. »Unser Haus«, erzählte ihm gerade mein Vater die Geschichte unserer Familie, während ich mich wieder unauffällig umsah, ob ich Finn nicht doch irgendwo entdecken konnte, »wurde 1550 erstmals in einer Urkunde erwähnt.« »Es ist wirklich toll«, schwärmte Tom. »Vor allem der Park!« »Ja, das war auch der einzige Grund für mich, in diese Einöde zu ziehen«, sagte meine Mutter. »Hier habe ich Platz für meine Ro sen.« »Mein Urgroßvater«, fuhr mein Vater fort, »hat es erst 1890 ge kauft. Er war nicht nur Arzt, sondern züchtete außerdem Pfer de. Das Gestüt war hier in der Gegend ziemlich bekannt. Er hat viele Preise bei Pferderennen gewonnen. Mein Großvater wur de hier geboren und hat diese Tradition fortgesetzt.« Er nahm einen Schluck von seinem Wein. »Unsere Familie blickt auf eine lange Tradition hier in der Gegend zurück.« »Warum haben Sie keine Pferde mehr?« »Der Krieg«, seufzte mein Vater und strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Meine Familie floh im Januar 1945. Mein Vater war gerade fünf Jahre alt. Sie verließen das Haus im Glauben, sie würden zurückkehren. Als er nach fünfzig Jahren endlich wiederkam, war das Haus eine Ruine. Leider starb Sofies Groß vater wenige Wochen nach unserem Umzug hierher. Ja, solch e Geschichten kennt ihr in Australien nicht«, versuchte mein Va ter die traurige Stimmung zu vertreiben. »Oder weißt du, wa rum deine Vorfahren nach Australien auswanderten? « »Nein!« Tom grinste. »In Australien stammt fast jeder von Sträf lingen ab. Niemand will dort so genau wissen, wer seine Ur großeltern waren.« Er lachte und wir stimmten ein, ich lauter , als ich eigentlich wollte, vielleicht war es der Sekt, der mir z u Kopf gestiegen war. Oder war ich so aufgeregt, weil ich plötz lich Finn aus der Küche kommen sah? Mein Herz schlug laut, al s ich ihn erkannte. Er trug einen Parka und Gummistiefel, als kä me er gerade von
Weitere Kostenlose Bücher