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Dornroeschengift

Dornroeschengift

Titel: Dornroeschengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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Besseres ein, als ein halbherziges Hallo zu murmeln und ungeduldig auf meine Armbanduhr zu schauen. »Mein Unterricht beginnt gleich.« »Was ist los?«, fragte er verwundert. Besser gesagt, er schien total verwirrt. Vielleicht ist er nur ein guter Schauspieler, überlegte ich. Du kennst ihn ja überhaupt nicht, weißt nichts über ihn. Nicht einmal seine Augenfarbe. Augenblicklich schaute ich ihn direkt an und stellte fest: Sie waren von einem klaren, strahlenden Blau. Quatsch, grübelte ich weiter, hier verdächtigt einfach jeder jeden. Das ist doch immer so, wenn die Leute Angst haben. Aber da waren die Reifenspuren. Der Verdacht stand im Raum. Ich konnte ihn nicht einfach wie eine Fehlermeldung wegkli cken, nicht einfach auf die Taste Entfernen drücken und alles war wie vorher. »Was ist los?«, wiederholte er. Mann, sein Blick war verdammt ernsthaft. Ein Blick, der einen zwang, die Wahrheit zu sagen. Man konnte sich davor nicht verstecken. Und, bildete ich mir ein, in den Augenwinkeln stand riesengroß der Satz: Du enttäuschst mich. »Nichts«, erwiderte ich. »Nichts also«, gab er zurück und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Deswegen ignorierst du mich? Schreckst vor mir zurück? Weil NICHTS passiert ist?« Ich konnte das Schweigen nur wenige Sekunden ertragen, schon rutschte mir die Frage heraus: »War die Polizei wirklich bei dir?« Es war gesagt, noch ehe ich es verhindern konnte. Er wurde blass, starrte mich einfach nur an: »Was meinst du . . .«, begann er, brach ab und sagte schließlich: »Okay, ich verstehe.« Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie ich überhaupt denken konnte, dass er etwas mit Lisas Tod zu tun hatte. »Nein«, protestierte ich. »Du verstehst das falsch.« »Ach ja?« Jamaica winkte von der Tür des Physiksaals und deutete hektisch auf ihre Armbanduhr. Was wollte sie von mir? Und dann fiel mir ein: Ich war heute an der Reihe, dem Dunkelmann beim Aufbau der Experimente zu helfen. Doch da stand Finn. Ich spürte seine Enttäuschung und hasste es, mich ihm gegenüber schuldig zu fühlen. Was sollte ich sagen? Mein Kopf war leer. Nein, nicht leer. Die Gedanken schossen mir geradezu durch den Kopf wie Blitze. Wenn du jemanden liebst, dachte ich, dürfen Gerüchte keine Wirkung auf dich haben. Du musst ihm vertrauen. Immun dagegen sein, was andere Leute sagen. Ich sollte darüber lachen? Ha! Nein, ich konnte nicht lachen. Sagen konnte ich auch nichts. Also hielt ich einfach meine Klappe. Genau das war ein Fehler. »Ich verstehe«, sagte Finn tonlos, »du glaubst es also auch!« »Was?«, fragte ich und fühlte mich total bescheuert, dass ich log. Er beugte sich vor und sah mir direkt in die Augen. Ich spürte mit jeder Faser seine Nähe – er war mir so nah wie im alten Hotel und entfernte sich gleichzeitig immer schneller. Ich streckte die Hand aus, um ihn um Verzeihung zu bitten, als er einen Schritt zurücktrat. »Du glaubst, ich habe etwas mit Lisas Tod zu tun.« Das war keine Frage, es war eine Feststellung. Seine Stimme hatte sich verändert. Ich hörte daraus weder Kälte noch Ablehnung, sondern Fassungslosigkeit. »Nein . . .«, schüttelte ich den Kopf, »natürlich nicht. So etwas würde ich nie denken. Ich wollte doch nur wissen . . .« »Das Geschwätz der Leute«, unterbrach er mich. »Du hörst es dir an, widersprichst nicht, ja, du glaubst es sogar.« Seit Mikes Verschwinden hatte niemand mich besser durchschaut, doch anstatt jetzt die Wahrheit zu sagen, erwiderte ich: »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Oh Gott, manche Sätze verschwinden nicht, wenn sie ausgesprochen werden. Nein, sie bleiben einfach in der Luft kleben. Man kriegt sie nicht mehr los. Innerhalb der nächsten Sekunde läutete dreimal die Schulglocke. Wie in der Bibel, als der Hahn krähte. »Du hast also einen Mörder geküsst«, sagte Finn. Hätte er traurig ausgesehen, hätte ich ihn trösten können. Wä re er wütend gewesen, ich hätte zurückschreien können, doch dieser gequälte Ausdruck im Gesicht schnitt mir ins Herz. Ich spürte, er war auf eine Art und Weise enttäuscht, wie noch nie jemand von mir enttäuscht gewesen war. Abrupt wandte er sich ab und ging einfach davon. Jamaica hob theatralisch die Hände, winkte, zog Grimassen. Ich reagierte nicht. Schließlich verschwand sie im Klassenzimmer. Die Tür fiel laut krachend hinter ihr ins Schloss. Wie gelähmt starrte ich Finn nach, der sich mit entschlossenem Schritt entfernte, die Treppen hoch in Richtung seines

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