Dornroeschengift
warmen Bett. Im Zimmer war es kalt. Ich zog eine dunkelgraue Strumpfhose an, stieg in den grau-blau karierten Rock, weißes T-Shirt, grauer Wollpullover: Perfekt zum Wetter passend verließ ich mein Zimmer. Über dem Haus lag eine für diese Uhrzeit ungewohnte Ruhe. Normalerweise hörte man zumindest das Geklapper von Geschirr aus der Küche, das Blubbern und Zischen der Kaffeemaschine. Oder das Telefon klingelte, weil irgendein Patient anrief. Doch heute war alles ruhig, und als ich die Küche betrat, stellte ich fest, dass niemand hier war. Keiner hatte mich geweckt. Dabei war es bereits kurz nach halb acht. Dann entdeckte ich durchs Fenster meine Mutter, Tom und Hendrik, die vor dem Beet mit Mams neuen Rosenstöcken standen. Sie diskutierten heftig miteinander. Immer wieder deutete Hendrik auf den Boden. Meine Mutter trug einen hilflosen Ausdruck im Gesicht, während Tom aufmerksam zuhörte, in die Knie ging und nach etwas zu suchen schien. Ich lief durch den Hinterausgang nach draußen. »Was ist los?«, fragte ich. Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und starrte entsetzt auf die ausgerissenen Rosenstöcke vor ihr. Die Erde war aufgewühlt und voller Löcher. »Wer macht so etwas?«, wiederholte sie unaufhörlich. »Wer tut mir das an?« »Ik möchte wissen, wat hier los ist«, knurrte Hendrik. »Dat is’ nu’ schon dat dritte Mal.« »Vielleicht Maulwürfe? Oder doch ein Fuchs?«, fragte ich und schlang die Arme um meinen Oberkörper. »Nee, nee, dat war keen Tier. Dat war ’n Mensch.« »Ich kann sie heute wieder einpflanzen«, bot Tom meiner Mutter an, doch sie schüttelte den Kopf. »Das werden sie nicht überleben.« Sie zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Aufregung. »Geh hinein, Sofie, sonst holst du dir wieder eine Erkältung.«
Ich saß am Frühstückstisch, füllte Schoko-Cornflakes in die Müslischüssel und goss Milch darüber. Mitten auf dem Tisch lag die Tageszeitung. Es war das erste Mal, dass ich ein Foto von der Stelle sah, an der sie Lisa gefunden hatten. Lediglich ein dicker schwarzer Pfeil markierte die Stelle. Aber deutlich zu erkennen waren die knorrigen hohen Buchen, die in die Luft ragten. War es Zufall, dass man sie in der Nähe des Waschsteins gefunden hatte? In einem weißen Kleid? Wir hatten einmal mit der Klasse eine Nachtwanderung dorthin unternommen und ich erinnerte mich mit leisem Schaudern an die knochigen Äste der hohen schlanken Buchen, die in die Luft stachen wie tote Finger. Es hieß nicht umsonst: Sobald die Dämmerung einbricht, beginnen die Bäume im Gespensterwald zu leben. Vergeblich versuchte ich das Foto zu ignorieren, allerdings zog mich die Überschrift magisch an: Mord am Waschstein. Täter entkam im Nebel. Keine neuen Hinweise nach Mord an der fünfzehnjährigen Schülerin Lisa B. »Die Spuren deuten darauf hin, dass der Täter aus dem persönlichen Umfeld des Opfers kommt. Einen konkreten Verdacht gibt es aber noch nicht«, sagte eine Polizeisprecherin. Allerdings wurden Reifenspuren in der Nähe des Tatortes gefunden, die von einem Moped stammen könnten. Die Obduktion des Leichnams in der Rechtsmedizin bestätigte am Montag als Todesursache Kreislaufversagen nach Einnahme von sogenannten K.-o.-Tropfen, vermutlich Temazepam. Ein Rätsel gibt auch die Kleidung auf. Das Mädchen wurde in einem weißen Kleid gefunden, das Rußflecken aufwies. Keine Rede davon, dass ein Verdächtiger festgenommen worden war. Nicht einmal ein Hinweis, dass die Polizei eine Vespa beschlagnahmt hatte. War das alles doch nur ein Gerücht? Ich hörte, wie sich hinter mir die Tür öffnete, und schob unwill kürlich die Zeitung zur Seite. Etwas in meinem Kopf drehte sich. Es war ein Gedanke, den ich nicht klar fassen konnte. Oder eine Erinnerung? Oder nur ein Gefühl? »Du musst dich beeilen«, hörte ich meine Mutter sagen. »Tom wartet bereits im Auto.« Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass die Schule in zehn Minuten begann.
Irgendwie hatte ich gehofft, Finn aus dem Weg gehen zu können, bis ich mir klar darüber wurde, was ich von den Anschuldigungen gegen ihn halten sollte. Doch als ich die Treppen hinunter Richtung Physiksaal lief, stand er an die Wand gelehnt und starrte in die Luft. Mein Herz begann vor Nervosität heftig zu schlagen. Er streckte die Hand aus und zog mich an sich. Oh Gott, er würde mich hoffentlich nicht jetzt und hier küssen! Ich befreite meine Hand aus seiner und trat einen Schritt zurück. »Hey«, sagte er lächelnd. Mir aber fiel nichts
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