Dornröschens Erlösung
jedem sehr schnell klar,
dass diese Hand die meinige war. Ich peitschte die Soldaten aus, die sich an
den Mädchen im Dorf vergangen hatten, während der wenigen Tage der Anarchie. Ich
hielt meinen Brüdern eine gehörige Strafpredigt, wies sie in ihre Schranken und
erinnerte sie mit unmissverständlichen Drohungen an ihre Pflichten. Ich ließ
die Armee zur Inspektion aufmarschieren und vergab großzügige Belohnungen an
jene, die meinen Vater geliebt hatten und mir ebenso treu ergeben sein würden.
Nichts davon war wirklich schwierig, und ich wusste, dass so
manches Königreich zerfallen war, weil ein neuer Monarch nicht wusste, was zu
tun war. Ich sah die Erleichterung auf den Gesichtern meiner Untertanen, als
sie merkten, dass ihr junger König auf leichte und selbstverständliche Weise Macht
ausüben konnte. Der oberste Hofmarschall war dankbar, jemanden zu haben, der
ihm half, und der Hauptmann der Armee führte sein Kommando mit neuem Eifer. Als
die ersten unruhigen Wochen vorüber waren und die Dinge auf dem Schloss nach
und nach zur Ruhe kamen, begann ich über all das nachzudenken, was mir
widerfahren war.
Ich trug keine Male mehr auf meinem Körper. Nun quälte mich
unendliches Verlangen. Und als mir unwiderruflich klarwurde, dass ich niemals
mehr ein nackter Sklave sein würde, litt ich Höllenqualen. Ich wollte nicht einmal
einen Blick auf all die Schmuckstücke werfen, die mir die Königin geschenkt
hatte. Die Spielzeuge aus Leder waren nun ohne jede Bedeutung für mich. Es war
nicht meine Bestimmung - wie Lexius es ausgedrückt hätte -, ein Sklave zu sein.
Ich musste nun ein guter und mächtiger Herrscher sein. Und die Wahrheit war:
Ich liebte es, König zu sein. Ein Prinz zu sein war schrecklich. Doch König zu
sein war wunderbar. Als meine Ratgeber zu mir kamen und mir sagten, es sei an
der Zeit, eine Gemahlin zu wählen und Kinder zu haben, um die Thronfolge zu
sichern, nickte ich in vollem Einverständnis. Das Leben bei Hofe begann mich zu
verzehren. Mein früheres Dasein war so unwirklich wie ein Traum.
“Wer sind die Prinzessinnen, die in Frage kommen? “ sagte
ich zu meinen Ratgebern.
Noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, kam mir
plötzlich ein ganz bestimmter Name mit aller Macht in den Sinn.
“Prinzessin Dornröschen!“ flüsterte ich. Konnte es sein,
dass sie noch nicht vermählt war? Ich wagte nicht, danach zu fragen.
“0 ja, Eure Majestät!“ rief mein Premierminister. „Das wäre
die klügste und beste Wahl, ohne Frage, doch sie weist all ihre Freier ab. Ihr
Vater ist schon ganz verzweifelt.“
Ich versuchte, meine Freude zu verbergen. „Ich frage mich, warum
sie sie abweist. Lasst mein Pferd satteln. Sofort!“ befahl ich und tat
unschuldig.
“Aber wir sollten zunächst einen offiziellen Brief an ihren
Vater senden . . . „
„Nein. Lasst mein Pferd satteln“, wiederholte ich und erhob
mich.
Ich ging in mein Schlafgemach und legte meine prächtigsten
Kleider an. Gerade wollte ich hinauseilen, als ich plötzlich innehielt. Und als
wäre mir der Wind aus den Segeln genommen, sank ich auf dem Stuhl an meinem
Pult zusammen. Dornröschen, mein Liebling Dornröschen. Ich sah sie vor mir, in
der dunklen, engen Kajüte des Schiffes, die Arme ausgestreckt und mich
anflehend. Und ich fühlte eine Woge des Verlangens, die mich nackter sein ließ,
als ich es jemals gewesen war. Andere verrückte Gedanken spukten in meinem
Kopf: Lexius in seinen Gemächern im Palast des Sultans, Jerard in den Ställen, Tristan
in unserer Box, Gareth. . . Dornröschen! Ich musste all meinen Mut
zusammennehmen, um aufzustehen. Und doch war ich entschlossener denn je. Ich
strich über die Tasche, in der ich die Kostbarkeiten verstaut hatte, die ich
ihr schenken wollte. Und dann warf ich einen letzten Blick in den Spiegel - der
König in violettem Samt und schwarzen Stiefeln und mit hermelinbesetztem Umhang.
Ich zwinkerte meinem Spiegelbild zu.
“Laurent, du Teufel“, sagte ich mit einem verschmitzten
Lächeln.
Wir erreichten das Schloss unangemeldet, ganz so wie ich es
erhofft hatte, und Dornröschens Vater war überglücklich, als er uns in die
Große Halle geleitete. Es waren nicht allzu viele Freier erschienen in letzter
Zeit. Und er war ganz versessen auf eine Allianz zwischen unseren Königreichen.
“Aber Majestät, ich muss Euch warnen“, sagte er höflich. „Meine
Tochter ist stolz und launisch und will niemanden empfangen. Sie sitzt den
lieben langen Tag am Fenster und
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