Dornroeschenschlaf
Nacht über Leben oder Tod eines Menschen; ich verbringe meine Tage schweigsam wie die Geliebte nach Maß, und sie – sie liegt weiter in ihrem Schlaf.
Und zwischendurch schwirren mir immer mal wieder die Worte durch den Kopf:
Unsere Liebe ist gar nicht real.
Von Anfang an waren sie da, diese Worte, denen für mich immer schon eine unliebsame Vorahnung anhaftete. Je müder er selbst wird, desto mehr versetzt er mich an einen Platz weit weg von der Wirklichkeit. Er sagt das nicht so direkt, also handelt es sich wohl um einen eher unbewußten Wunsch, aber er will mich möglichst unbeweglich halten, möchte am liebsten, daß ich in meinem Zimmer bleibe und still vor mich hin lebe, und wenn er mich sehen will, trifft er sich mit mir irgendwo in der Stadt wie mit einem Schatten aus einem Traum. Er steckt mich in schöne Kleider, und mein Weinen wie auch mein Lachen soll matt und flüchtig bleiben. – Unsinn, nein, das ist keineswegs allein seine Schuld. Die Finsternis seiner müden Seele spiegelt sich in mir, und da neige ich dazu, diese Rolle zu spielen, ich gefalle mir selbst darin. Zwischen uns beiden liegt eine Art trauriger Einsamkeit, und wir lieben uns, indem wir sie hüten wie unseren Schatz. Deshalb funktioniert es. Jetzt noch.
»Darf ich Madame noch schnell nach Hause fahren?« sagt er, als wir aus dem Restaurant treten, und steuert auf den Parkplatz zu.
»Du weißt gar nicht, wie gern ich das habe, wenn du so mit mir redest: ›Madame‹ und so weiter«, sage ich.
»Na, das kann ich mir vorstellen!« lacht er.
»Nein, wirklich, das macht den feinen Unterschied, kommt gleich ganz anders rüber!« Ich muß selber lachen.
»Aber laß nur, es ist noch früh, ich geh zu Fuß. Dabei werd ich wenigstens wieder nüchtern!«
»Wenn du meinst«, sagt er, und es klingt ein bißchen enttäuscht. Im Halbdunkel sieht sein Gesicht ganz ausgemergelt aus. Zwischen den endlosen Reihen dichtgedrängter Autos herrscht eine unheimliche Stille. Der enge Parkplatz kommt mir vor wie das Ende der Welt. Kurz vorm Abschiednehmen überkommt mich immer ein wenig so eine Stimmung.
»Was ist los – du siehst plötzlich unheimlich alt aus«, frotzele ich ihn. Aber er macht ein todernstes Gesicht und sagt, während er ins Auto steigt:
»Ich bin so müde, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht, aber irgendwie … Ich überlaß jetzt alles der Zeit. Das mag hart klingen, aber ich kann momentan einfach keinen klaren Gedanken über die Zukunft fassen.«
Das klingt wie ein Selbstgespräch.
»Ja, ich weiß – kann ich verstehen. Schon gut«, sage ich schnell und schlage die Wagentür zu. Mehr will ich nicht hören. Als ich auf die nächtliche Straße hinaustrete, hupt es; sein Wagen fährt an mir vorbei und verschwindet. Ich lache und winke ihm hinterher, habe dabei aber das Gefühl, mein lachendes Gesicht würde, genau wie das Grinsen der Edamer Katze aus Alice im Wunderland, losgelöst noch für unbestimmte Zeit durch die Dunkelheit wabern.
Ich liebe es, in beschwipstem Zustand durch nächtliche Straßen zu schlendern, auch ohne meinen Liebsten an der Seite. Mondschein durchflutet die Straßen, endlose Häuserreihen werfen ihre Schatten. Der Hall der eigenen Schritte vermischt sich mit fernem Straßenlärm. In der Stadt ist der Himmel so seltsam hell mitten in der Nacht – das ist zwar irgendwo unheimlich, aber irgendwo auch beruhigend.
Meine Füße trotten lustlos gen Heimat, aber mein Herz sagt mir, daß ich keinesfalls nach Hause will. Genau! Ich habe wohl die Absicht, bei Shiori vorbeizuschauen. In solchen Nächten bin ich immer zu Shiori gegangen. Nicht in ihr Arbeitszimmer, sondern in ihre Privatwohnung. Ob es daran liegt, daß ich beschwipst bin, oder daran, daß ich zuviel geschlafen habe – keine Ahnung, aber ich merke, wie sich die Grenzlinie zwischen Erinnerung und Wirklichkeit mehr und mehr verwischt. Etwas stimmt nicht mit mir in letzter Zeit. Ich kann nicht anders: Ich bilde mir doch tatsächlich immer noch ein, ich bräuchte nur in den Aufzug ihres Apartmenthauses zu steigen, hochzufahren zu ihrer Wohnung – und schon könnte ich sie dort sehen.
Schließlich habe ich Shiori oft nach solchen traurig einsamen, desillusionierenden dates noch besucht.
Aber auch, wenn die Verabredung mit ihm anders verlaufen wäre – neutral einsam fühle ich mich bei ihm eigentlich ständig. Warum wohl? – Diese immer irgendwie traurige, mit der Sehnsucht nach dem aus weiter Ferne herabscheinenden und langsam auf
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