Dornteufel: Thriller (German Edition)
misstrauisch oder lächelten ihn an, die einen entschuldigend, die anderen eher herausfordernd. Sie sahen, dass er an die Liege gefesselt war, halfen ihm jedoch nicht.
»Macht mich sofort los«, forderte er sie mehrfach auf und riss an dem Gurt, der ihn festhielt.
Nach einer Weile erbarmte sich eines der älteren Mädchen, nahm eine Schere und befreite ihn. Sie zeigte ein entzückendes Zahnlückenlächeln, das Kamal an seine Schwester erinnerte – an ihr glückliches Gesicht, das sie gezeigt hatte, bevor sie von der Mine verletzt worden war. Es war ihm egal, dass die Kinder den Wagen plünderten. Er wollte nur noch raus.
Benommen stand er auf, torkelte aus dem Fahrzeug und sah sich erst einmal um. Der Rettungswagen stand am Straßenrand in der Abendsonne, unweit eines kleinen Hüttendorfes unter ausladenden Bäumen. Von den Fahrern war weit und breit keine Spur zu sehen. Etwa fünfzig Meter entfernt befand sich ein zweiter Rettungswagen; den Bewegungen des Fahrzeugs nach zu urteilen war es ebenso von Dorfkindern geentert worden wie dieses hier. Und dann trat Irfan hinter dem Wagen hervor. Er erblickte Kamal und schritt sogleich auf ihn zu. Sein Gang war unsicher, und er rieb sich immer wieder den Rücken, aber er schien ansonsten unverletzt zu sein.
Kamal war niemals zuvor so froh gewesen, endlich wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen. »Verdammt, was ist los? Und wo zum Teufel sind wir?«, fragte er, nachdem sie einander umarmt hatten.
»Ich denke, wir sind irgendwo in Indien«, antwortete Irfan.
»Meinst du wirklich?«
»Ich habe die Männer im Wagen eine Weile miteinander sprechen gehört. Sie sollten uns in ein Forschungszentrum nach Bihar bringen … Aber dann hat irgendetwas diese Typen so erschreckt, dass sie abgehauen sind.«
»Sie haben die Wagen aufgegeben. Das ist kaum zu glauben.«
Sie beobachteten, wie die Kinder auf den Wagendächern herumturnten. Ein Junge montierte gerade die Scheibenwischer ab.
»Und weißt du was?«, sagte Irfan. »Es ist mir so was von egal.«
»Was sollen wir jetzt tun?«
»Abhauen.« Irfan grinste. »Diese Chance, in Indien unterzutauchen, bekommen wir nie wieder. Und wie es von hier aus weitergeht, sehen wir dann.«
H AMBURG , D EUTSCHLAND
Ein paar Wochen später zog Julia wieder in ihre eigene Wohnung im Hamburger Stadtteil Ottensen ein. Die Untermieterin hatte inzwischen etwas Eigenes gefunden, sodass es dann doch schneller als geplant zu einer Übergabe gekommen war.
Es fühlte sich seltsam an, wieder in der vertrauten Küche zu stehen, die sie – in einem anderen Leben – eigenhändig gestrichen hatte. Das Zimmer roch jetzt anders und war trotzdem vertraut. Julia stellte sich an das Dachfenster und sah über den Flickenteppich aus Dächern den Hamburger Fernsehturm in den grauen Nachmittagshimmel ragen. Das erwartete Gefühl der Ruhe und des »Angekommenseins« stellte sich nicht ein. Julia quälte eine ihr bisher unbekannte Ruhelosigkeit. Nachts hatte sie nach ihren Erlebnissen in den Pyrenäen jetzt regelmäßig Albträume. Die entsetzliche Folterung durch Stefan und seine grausame Chefin Catherine Almond würde sie wohl bis ans Ende ihres Lebens verfolgen. Glücklicherweise verheilten die Brandwunden recht gut, und die vernarbte Stelle vor ihrem Ohr konnte sie mit ihrem Haar verdecken, das sie jetzt etwas länger trug. Ein weiterer Grund für die Albträume war auch, dass die Ermittlungsarbeit der Polizei noch immer nicht abgeschlossen war und die Männer vom BKA sie häufig anriefen. Julia vermied es, die Berichterstattung über die Ereignisse in der Presse zu verfolgen. Sie wollte etwas Neues beginnen, um sich abzulenken. Zwei Jobs hatte sie in Aussicht, die sie allerdings nicht besonders reizten. Doch das Nichtstun und Grübeln brachten ihr Sonja nicht zurück und erweckten auch die anderen Toten nicht zum Leben.
Plötzlich kündigte die Türklingel an, dass jemand unten vor der Haustür stand und zu ihr wollte. Julia fragte über die Gegensprechanlage, wer da sei.
»Robert Parminski«, klang es durch den Lautsprecher. »War gar nicht so leicht, dich zu finden.«
Sie drückte den Türöffner. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, waren sie in Toulouse in der Notaufnahme eines Krankenhauses gewesen. Sie hatte sich später vergewissert, dass er durchkommen und außer einer Narbe keine bleibenden Schäden am Bein haben würde. Sie selbst war nach Hamburg eskortiert worden und während tagelanger Befragungen kaum zum Nachdenken gekommen. Als sie
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