Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
übergossen, wieder alles so, wie es war, obwohl doch Raskolnikow die Arbeiter längst beim Tapezieren gesehen hat. An dieser Stelle wird uns, den Lesern, klar, dass es sich um einen Traum handelt. Raskolnikow selbst merkt es erst, als er erwacht. Doch Dostojewskij lässt uns zum Überlegen gar keine Zeit. Das Erzähltempo ist hier enorm hoch. Raskolnikow will seinen Mord an der Wucherin ein zweites Mal begehen; sie sitzt, verhüllt von einem Umhang, in der Ecke auf einem Stuhl. Raskolnikow holt das Beil hervor, schlägt zweimal zu, doch sie rührt sich nicht. Er beugt sich zum Fußboden nieder, um ihr von unten ins Gesicht zu sehen, und erstarrt: »die Alte saß da und lachte«. Lachen und Flüstern ist von überall zu hören, und das Treppenhaus steht voller Leute, die Kopf an Kopf ihn anblicken, verstohlen warten und schweigen. Raskolnikow erwacht in seinem Zimmer. Die Tür ist geöffnet. Auf der Schwelle steht ein Unbekannter, der sich, nach zehn Minuten Schweigen, als Arkadij Iwanowitsch Swidrigajlow vorstellt.
Das falsche Geständnis eines Unbekannten
Hier ist der Auftritt eines jungen Sektierers zu nennen, der für sich in Anspruch nimmt, Raskolnikows Tat begangen zu haben. Ein Überraschungseffekt erster Güte. Mitten im zweiten großen Gespräch zwischen Raskolnikow und dem Untersuchungsrichter – genau in der Mitte des Romans (im sechsten Kapitel des vierten Teils) – wird der junge Sektierer Nikolaj Dementjew hereingeführt, der sich auf die Knie wirft und ein Geständnis ablegt: Er habe Aljona Iwanowna und ihre Schwester mit dem Beil ermordet. Der junge Sektierer will das Leid auf sich nehmen. Die Wirkung ist enorm, denn genau an der Stelle, wo sich Raskolnikow dem Untersuchungsrichter im Dialog ganz ausgeliefert hat, taucht unerwartete Rettung auf. Es ist nicht nur so, dass der Untersuchungsrichter nichts Konkretes gegen Raskolnikow in der Hand hat, nun ist auch noch ein anderer da, der Raskolnikows Verbrechen für sich beansprucht. Sein Verbrechen ist jetzt auf gleichsam doppelte Weise perfekt. Die Bedeutung des jungen Sektierers erschöpft sich aber nicht in einer puren Überraschung. Dostojewskij rückt ihn in eine allegorische Parallelität zu Raskolnikow. Nikolaj Dementjew ist zweiundzwanzig Jahre alt, hat ein Etui mit goldenen Ohrringen aus Raskolnikows Beute, das diesem direkt nach der Tat verlorenging, gefunden und versetzt, machte sich dadurch verdächtig und wollte sich in einem Kuhstall mit seinem Gürtel erhängen. Als man ihn daran hindert, stellt er sich der Polizei und nimmt die fremde Tat auf sich. Der Entschluss, das »Leid auf sich zu nehmen«, verbindet ihn mit Raskolnikow. Ja, Dementjew wird im Text, wenn auch weitläufig, den raskolniki, den Schismatikern (= Altgläubigen) zugeordnet, mit denen Raskolnikow (ebenfalls von russ. raskol = »Spaltung«) allerdings nichts zu tun hat. Das Wortspiel verbindet und trennt beide.
Der Mörder liest den Zeitungsbericht über seine Tat
Raskolnikow sucht ein Gasthaus auf, es heißt »Kristallpalast«, um Zeitung zu lesen. Er will mit eigenen Augen sehen, was man über seine Tat berichtet. Und tatsächlich, er findet, was er sucht. Es heißt: »Die Zeilen hüpften ihm vor den Augen, trotzdem aber las er die ›Nachricht‹ ganz durch und machte sich begierig über die folgenden Nummern her, um die jüngsten Ergänzungen ausfindig zu machen.« Genugtuung und Besorgnis vermischten sich, Genugtuung darüber, so ernst genommen zu werden, wie es nur irgend geht, und solche Wirkung gewissermaßen aus einem Versteck beobachten zu können, aus dem Versteck der Anonymität – und Besorgnis darüber, dass man ihm auf die Spur kommen könnte. Diese Besorgnis wird von Dostojewskij mit einer virtuos gehandhabten Pointe versehen. Raskolnikow, der begierige Zeitungsleser, der gerade hastig blättert, um noch mehr über den Stand der Ermittlungen zu erfahren, hat plötzlich einen Tischnachbarn: Samjotow, der Schriftführer vom Polizeirevier, hat sich zu ihm gesetzt! Raskolnikow fühlt sich verdächtigt und tritt die Flucht nach vorn an, indem er ausspricht, was der andere denkt. Raskolnikow sagt, er sei hierhergekommen, um die Berichte über den Mord an der alten Witwe zu lesen, und erläutert dann seinem verdutzten Gegenüber, wie er, Raskolnikow, vorgegangen wäre, wenn er den Mord begangen hätte; und dabei erzählt er genau, wie es gewesen ist, und fragt am Ende unverblümt: »Wenn ich es nun gewesen wäre, der die Alte und Lisaweta ermordet
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