Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
seinen ganzen Vorrat an reiner und getragener Wäsche stopft, um mit dem Kopf etwas höher zu liegen. Vor dem Sofa ein Tischchen. Und der Erzähler vermerkt: »Noch mehr zu verkommen und zu verwahrlosen, war kaum möglich, doch Raskolnikow empfand dies in seinem jetzigen Gemütszustand sogar als angenehm. Er hatte sich von allen Menschen völlig zurückgezogen, wie eine Schildkröte unter ihre Schale. Und selbst das Gesicht der Hausgehilfin, die ihn zu bedienen hatte und manchmal in sein Zimmer hereinsah, reizte seine Galle und verursachte ihm nervöse Zuckungen. So ist es mit manchen Monomanen, die sich allzu sehr auf irgendetwas konzentrieren.« [46] Man sieht: alles, was hier geschildert wird, ist objektives Korrelat zur Situation Raskolnikows nach seiner Tat. Er ist mit sich selber und der Welt uneins.
Das Zuschlagen als Leitmotiv
Dostojewskij hat Verbrechen und Strafe aus einem einzigen Motiv heraus entfaltet: dem Zuschlagen. Mit der Untat Raskolnikows gelangt das Zuschlagen auf seinen Gipfel.
Raskolnikow erschlägt zwei Frauen mit dem Beil. Zunächst die sechzigjährige Wucherin Aljona Iwanowna, danach deren fünfunddreißigjährige Stiefschwester Lisaweta Iwanowna, die zufällig auf der Mordstatt erscheint. Beide sind, als sie ermordet werden, völlig wehrlos.
Aljona Iwanowna beugt sich gerade über ein angebliches Pfand, als Raskolnikow mit der stumpfen Seite seines Beils auf ihren häßlichen eingefetteten Scheitel einschlägt; und Lisaweta Iwanowna ist ein derartig eingeschüchtertes Wesen, dass sie nicht einmal die Hand wirksam zur Abwehr hebt, als Raskolnikows Beil sie mit der Schneide an der Schläfe trifft. Man darf sagen: In Verbrechen und Stafe vollendet sich das dominierende Leitmotiv des Zuschlagens im Mord an zwei wehrlosen Frauen.
Auf Schritt und Tritt begegnen wir hier Menschen, die zuschlagen. So heißt es von Aljona Iwanowna, dass sie ihre Stiefschwester Lisaweta Iwanowna ständig schlage und in totaler Sklaverei halte. Arkadij Swidrigajlow gibt zu, dass er mitunter, während seiner Zeit als Falschspieler, verprügelt worden sei, und gesteht mit Bezug auf Marfa Petrowna, seine um fünf Jahre ältere Ehefrau, die nun tot ist: »Zur Peitsche habe ich in all den sieben Jahren unserer Ehe nur zweimal gegriffen – ein drittes Mal nicht mit eingerechnet, über das man sehr geteilter Meinung sein kann.« [47]
Der alte Marmeladow wird von seiner Frau, wenn er betrunken nach Hause kommt, regelrecht verprügelt, und er versichert, dass ihm diese Schläge keinen Schmerz, sondern Genuss bereiten. Von den Prostituierten am Heumarkt heißt es: »fast allen waren die Augen blau geschlagen«. Raskolnikow selbst bekommt von einem Kutscher, der ihn für einen Betrunkenen hält, mit der Peitsche eins übergezogen.
Dostojewskij lässt das Zuschlagen zu einer symbolischen Handlung werden. So wie die Wucherin Aljona Iwanowna ihre Stiefschwester Lisaweta durch Schläge unmündig macht »wie ein kleines Kind«, so treibt sie den mittellosen Rodion Raskolnikow durch ihre finanzielle Macht in den Zustand sklavischer Botmäßigkeit: er sieht sich gezwungen, sogar ihren Wucherzins zu akzeptieren. Die entmenschte Wucherin lässt den entmenschten Jura-Studenten entstehen, der zum ideologiebewussten Raubmörder wird. Und darin findet ein ganz bestimmter Gesellschaftszustand seinen Ausdruck. Der erfolgreich praktizierte Wucherzins ist für die Betroffenen genauso niederschmetternd wie Raskolnikows Beil für die Wucherin. Kurzum: Raskolnikows Doppelmord ist das Destillat der geistigen Situation der Zeit unter der Giftlupe des Hasses.
Um die Macht jener, die primär zuschlagen, zu brechen, schlägt Raskolnikow selber zu. Er tut genau das, was er selber abschaffen möchte. Das Paradoxon aber reicht noch weiter. Um zwei Frauen, Sonja und Dunja, aus der Abhängigkeit in unverschuldeter finanzieller Ohnmacht zu erlösen, hinterlässt er zwei ermordete Frauen – vom großen Geld keine Spur. Mit Raskolnikows »furchtbarem Traum« vom zu Tode geprügelten Pferd hat Dostojewskij die Problemstellung seines Romans in einem regelrechten Emblem zusammengefasst. Als Leser sehen wir uns aufgefordert, zu dieser »Pictura« die unausgesprochene »Subscriptio« zu finden. Hierzu ist sogleich noch ein näheres Wort nötig.
Bewusstseinsdarstellung
Es sei nicht vergessen, dass in Verbrechen und Strafe die gesamte Handlung bis zum Einsetzen des Epilogs nur eine Zeitspanne von insgesamt fünfzehn Tagen ausfüllt. Es sind
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