Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Hand Gottes im Geschehnisverlauf. Nicht, dass Dmitrij Karamasow Unrecht erleidet, macht sein Schicksal aus, sondern dass er Recht erleidet.
Und genau dies, Recht erlitten zu haben und nicht Unrecht, beansprucht Dostojewskij für sich selbst, indem er mit den Brüdern Karamasow den tiefsten Kommentar zu seiner eigenen Verhaftung, Verurteilung, Scheinhinrichtung und Begnadigung zu vier Jahren Zuchthaus liefert, der sich denken lässt. Wie konnte er sich im sibirischen Zuchthaus vom Zarenfeind zum Zarenfreund wandeln und plötzlich auf Lebenszeit die antirevolutionären Interessen des zaristischen Imperialismus vertreten? Darüber schweigen sich auch seine Aufzeichnungen aus einem toten Haus aus. Über all das, was in ihm wahrhaft vorging, als er urplötzlich verhaftet wurde und sich zum Tode verurteilt sah, sagt er so gut wie nichts. Aus seinen entsprechenden Briefen sind zwar die äußeren Fakten zu entnehmen. Wir haben es aber im Wesentlichen mit einer tabuierten Seelenlandschaft zu tun. Traumatisch vermintes Gelände. Off limits für rationale Aufarbeitung und Verbalisierung. Diese Aufarbeitung geschieht aber mit den Brüdern Karamasow . In keinem anderen seiner Romane schildert Dostojewskij eine völlig unerwartete Verhaftung, die zermürbenden Verhöre und die schließliche Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten, der den Schuldspruch, den er auf sich zieht, als gerecht anerkennt und sogar ausruft: »Gott ist gegen mich!«
Mit den Brüdern Karamasow schließt Dostojewskij den Frieden mit sich selbst. Er schildert hier das, was seinem Sträflingsreport Aufzeichnungen aus einem toten Haus vorausliegt. Das Tote Haus hält bereits das Resultat seiner Wandlung fest: mit der als positiv veranschaulichten Intoleranz gegen Judentum und Katholizismus. Die Brüder Karamasow schildern, versetzt in das Schicksal Dmitrijs, die Ursache und Begründung solcher Wandlung. Verhaftung, Verhör und Verurteilung eines Angeklagten sind hier das zentrale Thema der Gegenwartshandlung, mit dem Resultat: dass der wahre Schuldige Dmitrij ist, denn ohne ihn, der sich zum bösen Wunsch öffentlich bekennt, wäre die Wirklichkeit des Bösen nicht hergestellt worden. Literarisch verschlüsselt ist das eine Selbstanzeige des Autors, mit der die Aushebung und Deportation des »Petraschewskij-Kreises« im Jahre 1849 ihre Rechtfertigung erhält.
Eine besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang Dostojewskijs Brief vom 24. März 1856 aus Semipalatinsk an General Eduard von Todtleben (1818–1884), einen guten Bekannten noch aus seiner Studienzeit auf der Ingenieurschule der Militärakademie in Petersburg, der inzwischen russischer Nationalheld des Krim-Kriegs ist und auch in Tolstojs Erzählung Sewastopol im August des Jahres 1855 erwähnt wird. Dostojewskij kommt in diesem Brief auf seine Verhaftung und Verurteilung im Jahre 1849 zu sprechen und vermerkt: »Ich war schuldig, das ist mir völlig klar. Man überführte mich der Absicht (doch mehr nicht), gegen die Regierung aktiv zu werden. Das Urteil entsprach dem Gesetz und war gerecht: eine lange Drangsal, schwer und qualvoll, hat mich ernüchtert und meine Ansichten in vielem verändert. Doch damals, – damals war ich blind: ich glaubte an Theorien und Utopien.« [162] Genau dies aber, die nachweisliche »Absicht« (russ. namerenie ), macht Dmitrij zum Schuldigen. Und das ausgerechnet mit siebenundzwanzig Jahren.
So vollenden sich mit den Brüdern Karamasow Werk und Leben ihres Autors. Die zwölf Bücher des Romans liefern das Destillat der Ethik Dostojewskijs sowie eine Enzyklopädie der Erzählformen; und das Schicksal Dmitrijs, der die Strafe für einen Mord annimmt, den er nicht begangen hat, impliziert die Stellungnahme des Autors zu seinem eigenen Schicksal, das ihm mit siebenundzwanzig Jahren die Verhaftung und mit achtundzwanzig das sibirische Zuchthaus bescherte. Der Leser muss allerdings, um diese Parallele zu sehen, die Konstruktion der Phasen- und Wesenslehre des Bösen, wie sie in den Brüdern Karamasow hinterlegt ist, verstanden haben, weil sonst Dostojewskijs spätes Bekenntnis gar nicht wahrzunehmen ist. Notwendig, um die Brüder Karamasow angemessen zu verstehen, ist allerdings der Rekurs auf das Leben ihres Autors nicht.
Impressum
Covergestaltung: bilekjaeger
Coverabbildung: Wera Jermolajewa
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Unsere Adresse im Internet:
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