Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Hausknechtes, der gerade nicht da ist, unter einer Bank unverkennbar ein Beil hervorblitzt. Die Möglichkeit, ein aufklappbares Gartenmesser, das in seinem Besitz ist, als Tatwaffe zu benutzen, verwirft Raskolnikow, denn »auf das Messer und insbesondere auf seine Kräfte« will er sich nicht verlassen. Und deshalb hat er sich für ein Beil entschieden, das als Mordwaffe regelrecht archaische Züge trägt. Man sieht: Raskolnikows Weg ins Verbrechen und die schließliche Perfektion der Ausführung werden auf Schritt und Tritt von Zufällen getragen.
Verbrechen und Strafe hat seine Eigenart darin, uns das Bewußtsein eines Mörders aus edlen Motiven in einer Innenschau zu bieten. Ein durch des Mordes schwere Tat in Aufruhr versetztes Bewusstsein wird regelrecht bei der Arbeit beobachtet. In keinem anderen Werk Dostojewskijs werden so viele Träume geschildert. Raskolnikows Träume sind die Botschaften der Seele an das Ich, das diese Botschaften ausblenden möchte.
Und noch etwas: Die Befindlichkeit Raskolnikows, die sofort auf der ersten Seite einsetzt und bis zu seinem Geständnis auf der letzten Seite des sechsten Teils andauert, besteht aus ganz gemischten Gefühlen und lässt sich kaum treffend benennen. Lust und Qual, Hochmut und Zerknirschung, Aggression und Angst überlagern sich ständig und profilieren ihn als eine moralische Person (sic!), die von unstillbarer Wut gezeichnet ist. »Alle Menschen, die ihm entgegenkamen, waren ihm widerlich – widerlich waren ihm ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Hätte ihn jemand angesprochen, so hätte er ihn einfach angespuckt, ihn womöglich gebissen …« Das vermerkt der Erzähler im zweiten Kapitel des zweiten Teils. Die Frage ist: Wut worauf? Antwort: auf die bestehende Welt, die vom Wucherzins beherrscht wird und sich hier und jetzt nicht ändern lässt.
Raskolnikows Aussehen
Von allen Mörder Dostojewskijs ist Raskolnikow der schönste. Er hat ausdrucksvolle dunkle Augen, unverkennbar vornehme Gesichtszüge und wird uns gleich zu Anfang des Romans als »auffallend schön, dunkelblond, mit wunderbaren dunklen Augen, über mittelgroß, schlank und gut gewachsen« vorgestellt. Das ist wiederum programmatisch gemeint. Über seinem Aussehen liegt der Abglanz der Sittlichkeit.
Dostojewskij befindet sich damit ganz auf den Spuren Johann Caspar Lavaters, der den physiognomischen Blick propagierte – das Ablesen des Charakters eines Menschen aus dessen Gesichtszügen – und hierzu von 1775 bis 1778 in vier Bänden seine Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe publizierte. Raskolnikow als Mörder von sympathischem Äußeren ist in solchem Kontext ein hochinteressanter Sonderfall. Eine unmittelbar kriminelle Ausstrahlung haben Gesicht und Kopf Pjotr Werchowenskijs, des eiskalten Killers in den Bösen Geistern , von dem an Ort und Stelle noch die Rede sein wird. Auch Rogoschin im Idioten lässt mit seinem Gesicht sofort das Verbrechen ahnen, das er schließlich, am Ende des Romans, begeht.
Zum Aussehen aber gehört für Dostojewskij auch die Kleidung und die jeweilige körperliche Verfassung einer Person. Raskolnikow trägt zu Beginn des Romans einen auffälligen deutschen Hut, für Dostojewskij Zeichen ausländischer Gedanken, bekommt dann aber von Rasumichin eine russische Mütze geschenkt und ist am Ende mit geschorenem Kopf im sibirischen Zuchthaus zu sehen: ein Neuanfang in Sträflingskleidung. Die körperliche Verfassung Raskolnikows ist während der insgesamt 15 Tage, die er vor unseren Augen existiert, miserabel. Er hat einen fiebrigen Infekt mit Schüttelfrost und Ohnmachtsanfällen. In solcher körperlichen Verfassung, die ja in der Welt Dostojewskijs Folge der seelischen Verfassung ist, verkommt Raskolnikow regelrecht.
Wir befinden uns im dritten Kapitel des zweiten Teils, und es heißt, er betrachte, als er aufwacht, reizbar und böse, »voller Hass« sein Zimmer, das ein winziger Käfig ist, mit einer Decke so niedrig, dass ein hochgewachsener Mensch kaum aufrecht stehen kann. Drei Stühle darin, nicht mehr ganz heil; ein Tisch in der Ecke, auf dem eingestaubte Hefte und Bücher liegen. Und schließlich das plumpe große Sofa, das fast die ganze Länge und die halbe Breite des Zimmers einnimmt. Es dient Raskolnikow als Bett, und oft genug schläft er darauf ein, ohne sich erst auszukleiden, ohne Laken, zugedeckt mit seinem alten Studentenmantel, mit einem kleinen Kissen unter dem Kopf, unter das er
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