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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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er, um Sonja für Raskolnikow frei zu machen, ihre gesamte Familie wegräumt. Zunächst kommt ihr Vater zu Tode, weil er betrunken von einem Fuhrwerk überrollt wird; danach stirbt ihre (Stief-)Mutter in hysterischem Taumel an der Lungenschwindsucht; und schließlich werden Sonjas drei minderjährige Geschwister von Swidrigajlow, dem reichen Gutsbesitzer, in Waisenhäusern untergebracht und bis zu ihrer Volljährigkeit mit einem kleinen Kapital ausgestattet. Das handwerkliche Können Dostojewskijs zeigt sich hier darin, dass die jeweilige innerfiktionale, psychologische Begründung ( causa efficiens ) für den Tod des Vaters, den Tod der Mutter und die guten Taten Swidrigajlows, der sich mit seinem plötzlichen Edelmut vom Leben verabschiedet, derart plausibel ist, dass darüber die leitende außerfiktionale, poetologische Begründung ( causa finalis ), Sonja für Raskolnikow frei zu bekommen, unsichtbar wird. Eine poetologische Begründung wird immer nur vom analytischen Blick des Literaturwissenschaftlers erfasst werden. [42]  
    Gegen Napoleon
    Verbrechen und Strafe ist gegen den abendländischen Helden gerichtet, dessen Urbild der äschyleische Prometheus ist, der Frevler zum Heile der Menschheit: mit Napoleon als moderner Variante. Dostojewskijs zentrale Problemformulierung ist in jener Unterhaltung zwischen einem Studenten und einem Offizier enthalten, die Raskolnikow einen Monat vor seiner Tat zufällig mitgehört hat. Der Student sagt mit Bezug auf die alte Wucherin: »Bring sie um, und nimm ihr Geld … Für ein Leben tausend Leben, gerettet vor Fäulnis und Zerfall; ein Tod und dafür hundertfaches Leben – das nenne ich ein einfaches Rechenexempel.« [43]   Verbrechen und Strafe widerlegt diese Überlegung, indem Raskolnikow ihr gehorcht. Im Nachvollzug der Situation Raskolnikows macht der Leser eine Erfahrung mit sich selber.
    Die Situation Raskolnikows
    Dostojewskij, so konnten wir bereits feststellen, das ist der Kriminologe als Dichter. Was aber ist »Kriminologie«? Eine einschlägige Definition findet sich in § 2 der Satzung der »Gesellschaft für die gesamte Kriminologie«. Sie lautet: »Die Kriminologie befaßt sich mit allen Umständen, die mit dem Zustandekommen, der Begehung, der Aufklärung und der Bekämpfung des Verbrechens sowie der Behandlung des Verbrechers zusammenhängen.« [44]   Jeder Punkt dieser Definition ist von Dostojewskij gestaltet worden. Die Bekämpfung des Verbrechens wird allerdings nicht spezielles Thema, sondern muss als Anliegen seiner Dichtung insgesamt betrachtet werden, die eine Aufklärung eigener Art anstrebt.
    Es geht jetzt darum, Dostojewskij, den Systematiker, hervortreten zu lassen. Er beginnt aus biographischen Gründen mit der »Behandlung des Verbrechers« im sibirischen Zuchthaus. Aufzeichnungen aus einem toten Haus heißt sein bereits erläuterter Sträflingsbericht. Danach richtet er all seine dichterische Kraft auf die Gestaltung dessen, was dem Toten Haus vorausliegt: die Geschichte eines Verbrechens. Von seinen fünf großen Romanen beschäftigen sich drei jeweils zentral mit einer der Phasen, die ein Verbrecher durchläuft, wenn er seine Tat begeht. Verbrechen und Strafe schildert zentral, nämlich in den Teilen zwei bis sechs, den Zustand des Täters nach der Tat, seine Isolation, seine Lust und seine Qual, seinen Trotz, seine Angst davor, der Tat überführt zu werden, und schließlich sein Geständnis. In den Brüdern Karamasow, Dostojewskijs letztem Roman, ist die Planung eines Mordes bis zum Tatentschluss die Hauptsache: mit Dmitrij Karamasow als Angeklagtem. In der Mitte zwischen diesen beiden Werken befinden sich die Bösen Geister . Hier steht der Vollzug der Tat im Zentrum: mit der Ermordung Schatows durch Pjotr Werchowenskij, den eiskalten Killer.
    Man sieht: Das obsessive Interesse Dostojewskijs am Verbrechen besetzt systematisch den anstehenden Gegenstand. Steht der thematische Kern des Romans fest, so wird er nach allen Regeln der Kunst entfaltet. Wiederholungen sind nicht vorgesehen. So ist zum Beispiel die Tatwaffe immer wieder eine andere: ein Beil in Verbrechen und Strafe , ein Messer im Idiot , ein amerikanischer Revolver in den Bösen Geistern , ein gußeiserner Briefbeschwerer in den Brüdern Karamasow. In Verbrechen und Strafe also ist die Situation des Täters nach der Tat die Hauptsache, nachdem uns am Ende des ersten der sechs Teile der Doppelmord bei offener Blende in allen Details vorgeführt wurde. Typisch für

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