Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
hätte?« Hier aber kommt Raskolnikow zur Besinnung, Samjotow wird bleich wie ein Tischtuch, und Raskolnikow sagt böse: »Geben Sie zu, daß Sie es geglaubt haben?« Nun aber glaubt Samjotow es nicht mehr! Raskolnikow verlässt das Gasthaus, zittert am ganzen Leibe, gepackt von einer »wilden hysterischen Empfindung, die aber zum Teil unerträglicher Genuss war«. Wiederum löst das vernunftwidrige Verhalten Lust aus, wie es auch während Raskolnikows Rückkehr an den Tatort der Fall ist, die im gleichen Kapitel geschildert wird.
Die Angst des Täters
All diese Gemeinplätze der Kriminologie werden von Dostojewskij auf seine Weise genutzt, so auch die Angst des Täters davor, gefasst zu werden. Im letzten Kapitel des dritten Teils sieht sich Raskolnikow vor dem Haus, in dem er wohnt, von einem Kleinbürger, der »von ferne ganz wie ein Bauernweib aussah«, zunächst schweigend verfolgt. Doch plötzlich sagt der Mann: »Mörder!« und: » Du bist der Mörder« – und dies mit einem Lächeln hasserfüllten Triumphes; an der nächsten Straßenkreuzung biegt er links ab und geht davon, ohne sich umzublicken. Raskolnikow wird von Grauen gepackt, geht auf sein Zimmer und träumt den soeben referierten Traum, wie er Aljona Iwanowna erneut ermorden will. Doch ohne Erfolg, sie lacht nur. Die Konfrontation Raskolnikows mit dem Mann, der ihn Mörder nennt, ist innerhalb eines realistischen Romans eine zunächst beirrende Episode, denn die objektive Realität scheint hier ganz der Angst zu gehorchen, die Raskolnikow in seinem Inneren bewegt: der Angst davor, entdeckt zu werden. Dostojewskij geht so vor, dass es zunächst so aussieht, als würden wir mit einer Halluzination Raskolnikows konfrontiert. Dass der Mann, der Raskolnikow Mörder nennt, von ferne aussieht wie ein Bauernweib, erinnert sofort an die erschlagenen Opfer. Am nächsten Tag aber öffnet ebendieser Mann langsam und leise Raskolnikows Zimmertür, den das Entsetzen packt, denn da steht »der Mann von gestern, aufgestiegen aus der Erde « (im Original kursiv). Das ist zweifellos bester Alfred Hitchcock, nur hundert Jahre früher und ohne Kamera. An dieser Stelle aber liegt bereits die Auflösung vor, denn inzwischen ist der junge Sektierer aufgetreten, und der »Mann von gestern« entschuldigt sich bei Raskolnikow dafür, ihn zu Unrecht verdächtigt zu haben. Man könnte sagen, dass Dostojewskij mit diesem Mann, der Raskolnikow Mörder nennt, die Disposition eines jeden Mörders zu einer Sonderform der »Affektillusion« gestaltet: die mehr oder minder starke Bereitschaft nämlich, in einem beliebigen Passanten jemand wahrzunehmen, der alles weiß und plötzlich sagt: » Du bist der Mörder.«
Dostojewskijs Absicht
Folgendes ist festzustellen: Dostojewskij geht so vor, dass er die Angst Raskolnikows, als Täter entdeckt zu werden, ins Leere laufen läßt. Es gibt keine Zeugen und keine Indizien. Und der Sektierer, der die Tat auf sich nimmt, die er nicht begangen hat, erschwert sogar dem Untersuchungsrichter das Handwerk. Dostojewskij lässt Raskolnikow allein mit seinem Gewissen. Solche Konstruktion hat programmatischen Charakter. Der Täter soll nach seiner Tat in die Freiheit der Entscheidung über sich selbst gestellt werden. Man beachte, dass das Motiv des Selbstmordes den ganzen Roman durchzieht und in Swidrigajlow, der privativen Parallele zu Raskolnikow, auf den Gipfel kommt. Raskolnikow entscheidet sich in der Regennacht (die uns nicht geschildert wird, weil die Sicht auf Swidrigajlow übergeht) gegen den Selbstmord. Unter dem Zuspruch Sonjas und dem Integrationsangebot des Strafgesetzes verlässt Raskolnikow die Hölle des schlechten Gewissens, der er nicht gewachsen ist.
Raskolnikow ist kein »Profi«. Mit dem Wissen des Kriminologen gestaltet Dostojewskij einen vollkommen unprofessionellen Täter. Die Art, wie Raskolnikow in seine Tat, obwohl er sie seit einem Monat geplant hat, hineintaumelt und sie mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit zu einem perfekten Verbrechen werden lässt, verdient ganz besondere Beachtung. Man denke nur an die naiv-kühne Beschaffung der Mordwaffe, die er nach dem Vollzug der Tat wieder akkurat in die Kammer des Hausknechtes zurückbringt, wo er sie hergeholt hat. Es ist der Hausknecht des Hauses, in dem Raskolnikow wohnt. Raskolnikow will zunächst ein Beil aus der Küche seiner Wirtin entwenden; dort aber hält sich diesmal Nastasja auf, und es ist purer Zufall, dass aus der offenstehenden Kammer des
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