Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Freund, der sich mit Übersetzungen und Nachhilfestunden ein kärgliches Auskommen sichert. Raskolnikow überlegt, ob er Rasumichin aufsuchen soll, um sich ebensolche kleinen Aufträge verschaffen zu lassen – und verwirft diesen Gedanken.
Die Systematik Dostojewskijs springt sofort ins Auge: Auf die Unerträglichkeit der bestehenden Welt reagiert der alte Marmeladow damit, dass er sein Ich mit Alkohol abtötet, Rasumichin damit, dass er sich vernünftig bescheidet, und Luschin damit, dass er in den verwerflichen Lauf der Dinge aktiv einsteigt. Diese drei Auswege kommen für Raskolnikow nicht in Frage, und er schreitet zur Tat. Einen Tag vor der Tat hat er einen furchtbaren Traum, den Traum vom zu Tode geprügelten Pferd, der Raskolnikows Zwangslage, Opfer und Täter zugleich sein zu müssen, unvergesslich ins Bild hebt. Wie man weiß, hat Dostojewskij selbst diesen Traum mit Vorliebe öffentlich vorgetragen.
Raskolnikows Verbrechen wird gleichsam mit »subjektiver Kamera« geschildert. Sein flackerndes Bewußtsein ist gleichzeitig übersteigert aufmerksam und nachlässig. So lässt er etwa während der Ermordung der Pfandleiherin die Wohnungstür offen, so dass deren Stiefschwester plötzlich auf der Mordstatt erscheinen kann. Raskolnikow handelt wie im Rausch, einem kalten Rausch. Die rationalen Rechtfertigungen des Frevels spielen keine Rolle mehr. Der Sog des Bösen um seiner selbst willen hat gesiegt.
Erst viel später im Roman erfahren wir, dass Raskolnikow eine Abhandlung mit dem Titel Über das Verbrechen geschrieben hat, die auch publiziert, aber von ihm selber regelrecht vergessen worden ist. Darin vertritt er die Ansicht, dass gewissen außergewöhnlichen Menschen sogar der Mord erlaubt sei, ja dass im Grunde genommen alle Gesetzgeber und Führer der Menschheit Verbrecher gewesen seien. Sogar von einem Recht solcher Menschen auf das Verbrechen ist die Rede. Die Dostojewskij-Forschung hat gezeigt, dass in Raskolnikows Abhandlung Echos auf die Artikelserie Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet (1827–1854) von Thomas De Quincey zu finden sind, worin eine Ästhetik des Mordes entworfen wird und der Mörder als Künstler in Erscheinung tritt. [41] Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, wird als der Erfinder des Mordes und Vater dieser Kunst ganz besonders gefeiert: als »ein Genie allerersten Ranges«. Unter dem Deckmantel weit ausgesponnener makabrer Witzeleien skizziert De Quincey eine Universalgeschichte der Gewalttätigkeit. Raskolnikow tut das Gleiche, allerdings mit bitterstem Ernst, der in seinen absurden Konsequenzen wiederum komisch wirkt. Nun ist Dostojewskij weit davon entfernt, die spezielle Ironie De Quinceys in Anschlag zu bringen, dennoch bringt Verbrechen und Strafe gleichsam auf dem Schleichweg etwas zustande, das weit über das hinausgeht, was der englische Romantiker intendiert haben mochte. Wer wollte bestreiten, dass wir mit Raskolnikow regelrecht darum bangen, die Ausführung des geplanten Mordes nicht durch äußere Umstände vereitelt zu sehen? Dostojewskij bringt uns des Weiteren dazu, dass wir nach der Tat mit Raskolnikow hoffen, dass niemand ihm auf die Spur kommen möge. Der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch wird ganz und gar unser Feind. Es findet auf diese Weise aber keine Ästhetisierung des Mordes statt, wie sie De Quincey spielerisch durchführt, sondern eine Aufklärung des Lesers über sich selber: Er sieht ein, wozu er gebracht werden kann. Ja, mancher von uns bedauert sogar, dass Raskolnikow schließlich schwach wird und sich der Polizei stellt. In dieser Verführung des Lesers, in dieser moralischen Korrumpierung des Lesers für die Dauer der Lektüre liegt die wahre Abgründigkeit der Leistung Dostojewskijs.
Raskolnikows Gründe für seine Untat sind mehrstufig. Dostojewskij suggeriert dem Leser, sie allesamt nachzuvollziehen. Da ist (I) der Wunsch, durch einen Raubmord Dunja, seine Schwester, und Sonja, die junge Prostituierte, aus der finanziellen Ohnmacht zu befreien, und (II) der Unmut über die allseits herrschende Macht des Geldes, die im praktizierten Wucherzins der hässlichen Pfandleiherin ihre greifbare Gestalt hat, des Weiteren (III) die Selbsterhöhung inmitten äußerster Armut und Ohnmacht durch heroische Identifikation mit Napoleon, der, wie alle Gesetzgeber, die die Geschichte kennt, über Leichen gehen muss, um die Menschheit ins Licht zu führen. Und da ist (IV) die schwelende und uneingestandene Lust am Bösen um seiner selbst
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