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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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dies aber nicht in einem kommunistischen Sinne, sondern in einem christlichen Sinne. Den Unterschied zwischen Kommunismus und Christentum hat Dostojewskij selbst einmal, in einem Brief an Arkadij Kovner vom 14. Februar 1877, folgendermaßen erläutert. Der Kommunist sagt: Du musst dein Eigentum abgeben. Der Christ sagt: Ich will mein Eigentum abgeben. [40]   Raskolnikows Untat ist gegen den Wucherzins gerichtet, dessen Wesen in der hässlichen alten Pfandleiherin Aljona Iwanowna dichterisch ins Bild gehoben wird.
    Raskolnikow ist dreiundzwanzig Jahre alt, völlig mittellos und hat sein Jurastudium abgebrochen. Extrem menschenscheu, lebt er in einer winzigen Dachkammer eines vierstöckigen Mietshauses in Petersburg. Nicht von ungefähr entsteht in ihm der Wunsch, die alte Wucherin Aljona Iwanowna zu ermorden und auszurauben. Mit dem erhofften großen Geld will er andere und sich selbst von der Demütigung durch finanzielle Ohnmacht erlösen und glücklich machen. Dostojewskij hat jedoch alles andere als einen russischen Grafen von Monte Christo geschrieben. Zunächst einmal wird Raskolnikows geplanter Mord zu einem ungeplanten Doppelmord, als Lisaweta, die geistig zurückgebliebene und ständig schwangere Stiefschwester der alten Wucherin, völlig unerwartet auf der Mordstatt erscheint. Aber nicht nur das. Angesichts der zwei Leichen auf dem Fußboden – aus dem Kopf der toten Wucherin fließt das Blut »wie aus einem umgestürzten Glas« – wird Raskolnikow nervös und verlässt den Tatort mit einer Handvoll zufällig aufgeraffter Nichtigkeiten, die er auf einem verlassenen Hof unter einem Stein versteckt. Seine Tat erweist sich aufgrund einer Reihe von Zufällen als ein perfektes Verbrechen, und er ist nun allein mit seinem schrecklichen Wissen von sich selber und sieht sich der Tortur wachsender Isolation ausgesetzt. Das sommerlich schwüle Petersburg Anfang Juli des Jahres 1865 wird ihm zum Albtraum.
    Zentrum des Romans Verbrechen und Strafe ist der Zustand des Täters nach der Tat, die uns ja bereits am Ende des ersten Teils geschildert wird. Die folgenden insgesamt fünf Teile führen uns die Lust und Qual Raskolnikows nach der Tat vor. Der Epilog zeigt uns Raskolnikow schließlich anderthalb Jahre später im sibirischen Zuchthaus, wo er paradoxerweise die frische Luft der Freiheit atmet, während ihm zuvor in Petersburg, der »stinkenden Stadt«, sein enges Zimmer zum Sarg geworden war. Dem Abstieg Raskolnikows in die Hölle des Verbrechens folgt sein Aufstieg zur Annahme der vom Gesetz vorgesehenen Strafe für sein Verbrechen: acht Jahre Sibirien. Am Anfang des Romans steigt Raskolnikow eine Treppe hinab, am Ende eine Treppe hinauf. Man sieht an diesem Detail, dass Dostojewskij die Außenwelt immer nur als herausgelegte Innenwelt Raskolnikows ins Spiel kommen lässt. Wir sehen nur, was Raskolnikow sieht, und Raskolnikow sieht nur, was für ihn im Banne seiner Ausnahmesituation von Bedeutung ist. Petersburg ist in Verbrechen und Strafe in Wahrheit gar keine Stadt, die man auf der Landkarte finden kann, sondern ein Seelenzustand – schwül und staubig, mit riesigen, hässlichen Mietshäusern, in denen sargähnliche Zimmer zu haben sind, mit schmutzigen Kellerkneipen und Kanälen, in denen schwarzes Wasser fließt, das die Selbstmörder magisch anzieht. Raskolnikow fragt sich, »warum der Mensch in allen großen Städten weniger aus Notwendigkeit als vielmehr aus irgendwelchen anderen Gründen besonders dazu neigt, gerade in solchen Stadtteilen zu leben und sich anzusiedeln, in denen es weder Gärten noch Springbrunnen gibt, sondern nur Schmutz und Gestank und alle nur denkbaren Abscheulichkeiten«.
    Dies gilt auch für Raskolnikow selbst. Er versucht sogar, sich im Unerquicklichen einzurichten. Sein verwahrlostes Zimmer ist ihm »angenehm«, weil es seinem »Gemütszustand« entspricht. An einem schwülen Juliabend zieht es ihn wieder einmal zum Heumarkt, damit ihm »noch ekliger« zumute werde, und er gesteht einem wildfremden, nicht mehr ganz jungen Herrn, der neben ihm einem Leierkasten mit einer Straßensängerin gelauscht hat: »Ich liebe es, wenn an einem kalten, düsteren und feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, es muß unbedingt ein feuchter Herbstabend sein, wenn die Passanten bleichgrüne und kranke Gesichter haben; oder, noch besser, wenn nasser Schnee fällt, ganz senkrecht, ohne Wind, verstehen Sie?, und durch den Schnee die Gaslaternen schimmern …« Die Seelenqual sucht

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