Dr. Sex
straff über Muskeln, so zäh wie Dörrfleisch. Sein Kopf war bedrohlich nahe.
Sein Gesicht. »Nun, Milk«, sagte er, »bist du jetzt soweit? Du und deine Frau?«
Ich sagte nichts. Ich konnte Iris nicht ansehen.
»Du wirst mir doch nicht verklemmt werden, oder, Milk? Iris?«
Und da sprach Iris das erste Wort, seit sie den Raum betreten hatte. Sie sagte nur ein einziges Wort, und es traf mich mitten ins Herz. Sie sagte: »Purvis.«
»Wie war das?« fragte Prok leise und lauernd.
Sie wandte den Kopf ab. »Ich tue es mit Purvis.«
Es entstand eine lange Pause, alles war in freiem Fall, das ganze Projekt – Akten, Protokolle, Fahnenabzüge, dicke gebundene Ausgaben – war im Begriff, vom Himmel zu fallen, als hätte sich die Frachtluke eines Flugzeugs geöffnet, und ich sah es geradezu vor mir: dicke Papierbüschel auf den Hecken, Rasen und Dächern von Amerika, und die Hausfrauen und ihre geplagten Ehemänner zupften mit spitzen Fingern in einem herzzerreißenden anonymen Geheimnis nach dem anderen herum, bis sie einander in die Arme fielen und um uns weinten, um uns arme, leidende menschliche Säugetiere mit unseren Lüsten, unseren Verletzungen, unseren Bedürfnissen. Dann senkte Prok seine Stimme zu einem Flüstern und sagte: »Nein, nicht mit Purvis. Mit mir.«
Ich sehe noch seine Beine, seine harten geäderten Beine, als er sich erhob und an ihrem Handgelenk zog, bis sie ebenfalls stand, die Brüste, der ganze Körper entblößt, und wie sie den Arm zurückzog und sagte: »Lieber würde ich sterben«, und dann war ich in Bewegung, und es war wie ein Ringkampf, wie auf dem Footballfeld. Ich weiß nicht, was über mich kam – oder doch, ich weiß es –, aber Prok lag mitten im Raum auf dem Rücken, und alle sprangen auf, und Iris bückte sich nach ihren Kleidern und rannte hinaus.
Wir holten unseren Sohn sehr spät bei der Babysitterin ab – oder vielmehr: ich holte ihn dort ab, denn Iris war nicht im Wagen und nicht zu Hause und nicht auf einer der dunklen, windigen Straßen, durch die ich fuhr, bis der Himmel heller wurde und die Babysitterin ihr wütendes Gesicht durch den Türspalt streckte und John junior schwer in meinen wartenden Armen lag.
10
Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit. Ich versorgte mei- nen Sohn, saß neben dem Telefon und wartete darauf, daß es klingelte. Nach dem Mittagessen – ich machte ein paar Frankfurter warm und und öffnete eine Dose Bohnen mit Schweinefleisch – setzte ich mich mit John junior in den Wagen und fuhr systematisch immer wieder durch die Straßen der Stadt, als wäre ich einer von diesen Greisen, die etwas suchen, was sie nicht benennen können. Dabei konnte ich es benennen: Iris. Und was erwartete ich? Daß sie, den Wind in den Haaren, einen Bürgersteig entlangging, unterwegs zum Einkauf? Ich hielt an der Grundschule, wo sie bis zur Geburt unseres Sohns gearbeitet hatte, in der vagen Hoffnung, sie könnte für eine fehlende Kollegin eingesprungen sein, aber nein, sie war nicht dort – die offenbar erst kürzlich eingestellte Sekretärin verstand gar nicht, wen ich eigentlich meinte. Während der ersten halben Stunde plapperte John junior noch auf mich ein, dann spielte er an den Knöpfen des Radios herum, bis er schließlich unter dem statischen Rauschen einschlief, während der Wagen dahinkroch und ich durch die Windschutzscheibe starrte und meine Gedanken rasten. Irgendwann fuhr ich verzweifelt hinaus zu dem Steinbruch, wo wir in unschuldigeren Tagen geschmust hatten; ich kletterte über die weißen Felsstufen und spähte hinab in das sich verdunkelnde Wasser, als könnte ich dort den langsam im Kreis treibenden Leichnam einer Selbstmörderin entdecken.
Nach dem Abendessen – wieder Frankfurter und Bohnen – saß ich stumpf im Sessel vor dem kalten Kamin und las Pu baut ein Haus vor, bis ich es auswendig konnte, und immer noch wollte John junior, daß ich weiterlas. Sollten wir nicht lieber Radio hören? »Nein, lesen«, sagte er. Und unterbrach mich mitten in dem Kapitel über den windigen Tag, um mit noch nuscheliger Stimme zu fragen: »Was ist böig?« »Das ist so wie gestern«, sagte ich, »als wir den Drachen haben steigen lassen.« Er saß neben mir – die kurzen Arme und Beine, das widerspenstige Haar, das wie eine Kopie des meinen war (ungebürstet, so wie sein Gesicht ungewaschen war, denn auch darauf verstand ich mich nicht besonders) – und sagte nach kurzem Schweigen zum vielleicht sechzigsten Mal: »Wo ist Mommy?« »Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher