Dr. Sex
vorbeigegangen, da rümpfte sie die Nase und flüsterte: »Hier riecht’s, als hätte jemand alle Kater der Stadt losgelassen.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte, und so lächelte ich schmal – freudige Erregung erschien mir nicht angebracht, denn schließlich ging es hier um Bildung, um Wissenschaft, und jedes Gesicht trug faltenlose Nüchternheit zur Schau – und erlaubte mir, die rechte Hand leicht um ihre Taille zu legen, als ich sie durch das Gedränge in den abgedunkelten Hörsaal führte. Wir waren eine Viertelstunde zu früh, doch die Plätze an den Gängen waren bereits besetzt, und wir mußten uns mühsam durch einen Verhau aus Knien, Büchertaschen und Schirmen zu zwei Mittelplätzen in einer der hinteren Reihen durchkämpfen. Laura setzte sich, schüttelte das Haar aus, winkte dreißig bis vierzig Leuten zu, die ich nicht kannte, beugte sich über ihr Schminktäschchen und zog ihre Lippen nach. Sie reckte sich wieder, preßte die Lippen aufeinander und bedachte mich mit dem Blick, den sie vermutlich für ihren kleinen Bruder oder den Hund der Familie reserviert hatte: Sie war Studentin im dritten Studienjahr und stammte aus Fort Wayne, und ich war Student im vierten Studienjahr und stammte aus Michigan City, und ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte, mir etwas anderes einzureden – zwischen uns war nichts, absolut nichts.
Ich sah an unserer Sitzreihe entlang. Beinahe alle Studentinnen schauten sich mit glänzenden Augen um, während die Männer an ihren Klemmbrettern herumfummelten und ihre Bleistifte überprüften. Dick Martone, einer aus meinem Studentenheim, sah kurz auf, und unsere Blicke trafen sich. Wir wandten uns beide ab, doch die Erregung in seinen Augen war mir nicht entgangen. Da waren wir nun – er eingezwängt zwischen zwei anderen Studenten, ich neben der sich putzenden Laura Feeney – und würden gleich sehen und aufnehmen, wonach wir uns den größten Teil unseres Lebens gesehnt hatten. Ich kann nicht mal annähernd den Schauer beschreiben, der durch den Saal lief, von Sitz zu Sitz, von Ellbogen zu Ellbogen, durch diese ganze hungrige Masse. In den vergangenen Wochen hatten wir allerlei über die Geschichte der Ehe und ihre Traditionen erfahren, über die mit ihr verbundenen Gefühle, die juristischen Implikationen dieses Bundes und sogar über die Anatomie der für die Fortpflanzung erforderlichen Organe; die Worte »Penis«, »Brustwarze«, »Vagina« und »Klitoris« waren laut und in gemischter Gesellschaft ausgesprochen worden, und nun würden wir das alles mit eigenen Augen sehen. Ich spürte in all meinen Gliedern das Blut pulsieren.
Dann schwang die Seitentür auf, und Dr. Kinsey schritt zielstrebig zum Podium. Eben noch war er in Galoschen und Südwester über den Campus gestapft, doch man hätte meinen können, sein Weg hätte ihn über eine sonnenbeschienene Wiese geführt: Die exakt frisierte Haartolle erhob sich wie in Form gegossen senkrecht über der Stirn und lief flach am Kopf anliegend aus, der dunkle Anzug, das weiße Hemd und die Fliege waren makellos, und sein Gesicht wirkte jugendlich und entspannt. Er war damals Mitte Vierzig, ein hochgewachsener Mann mit sehr großem Kopf, eigenartig schmalen Schultern und leicht gebeugter Haltung – eine Folge der Rachitis, die er als Kind gehabt hatte –, und er machte keine Bewegung zuviel und verschwendete keine Zeit. Das erwartungsvolle Gemurmel verstummte abrupt, als er ans Pult trat, den Kopf hob und den Blick auf das Auditorium richtete. Stille. Absolute Stille. Mit einem Mal hörten alle den Regen, ein beständiges leises Zischen im Hintergrund, wie statisches Rauschen.
»Heute werden wir uns mit der Physiologie der sexuellen Reaktion und des Orgasmus unserer Spezies befassen«, begann er. Keine einführenden Worte, kein vorformuliertes Konzept, und als seine gelassene, nüchterne Stimme erklang, spürte ich, wie Laura Feeney sich anspannte. Ihr Gesicht war verzückt, und im Dämmerlicht des Hörsaals leuchtete ihre weiße Bluse, als wäre sie der einzige helle Punkt im Halbrund. Sie trug Kniestrümpfe und einen karierten Rock, der so eng anlag, daß man die Konturen ihrer langen Oberschenkelmuskeln erkennen konnte. Der Duft ihres Parfüms hielt mich gepackt wie ein Schraubstock.
Professor Kinsey – Prok – führte mit Hilfe eines Overheadprojektors vor, wie der Penis infolge eines Blutstaus erigiert und beim Orgasmus zwischen zwei und fünf Millionen Spermien freisetzt, und wandte sich dann den
Weitere Kostenlose Bücher