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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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flüsterte ich: »Komm mit zu mir.«
Unvermittelt veränderte sich Lauras Ausdruck. Sie starrte mich an, und ihre Gesichtszüge traten so scharf hervor, als hätte ich sie noch nie wirklich gesehen, als wäre sie nicht die Frau, die mich soeben in einem Augenblick herrlicher Besinnungslosigkeit geküßt hatte. Wir saßen reglos da, unser Atem vermischte sich, unsere Hände lagen auf dem Tischrand, als wüßten wir nicht, wohin mit ihnen – bis sie sich abwandte und Handtasche, Regenmantel und Hut nahm. Plötzlich drangen die Geräusche von der Theke in mein Bewußtsein: Jemand sang in knarzendem Bariton, ein frisch angestochenes Faß zischte. »Was denkst du dir eigentlich, John?« sagte sie, und auch ich sprang jetzt auf, betreten und vermutlich knallrot. »Ich bin nicht so eine.«
    Aber lassen Sie mich einen Augenblick innehalten, denn ich will nicht auf dem falschen Fuß beginnen. In diesem Buch geht es nicht um mich, sondern um Prok, und Prok ist tot. Ich aber sitze hier in meinem Arbeitszimmer, das ich abgeschlossen habe, neben mir steht ein Glas mit den traurigen Resten eines Zombie-Cocktails, und ich versuche, in diesen Apparat zu sprechen und meine Gedanken zu ordnen, während Iris in ihren hochhackigen Schuhen auf dem Flur auf und ab geht, bei jedem dritten Mal am Griff rüttelt und mich mit durch die Tür gedämpften Rufen daran erinnert, daß wir zu spät kommen werden. Zu spät wozu? frage ich mich. Zu spät, um zusammen mit Reportern und anderen Schaulustigen durch das Beerdigungsinstitut zu trampeln? Zu spät, um unsere Hilfe anzubieten? Um unser Engagement unter Beweis zu stellen? Wird das Mac irgendwas bringen? Oder den Kindern? Oder Corcoran, Rutledge, vielleicht gar meinem eigenen Sohn John jun.? Er hat sich vor zwei Stunden in seinem Zimmer oben eingeschlossen, weil er genug hat von Tod und Kummer und Trauer, denn im Gegensatz zu den Aasgeiern und Leichenfledderern und dem ganzen Rest der Bande hat er nicht das leiseste Bedürfnis, einen Blick auf die leere Hülle von einstiger Größe zu werfen. Auf den Leichnam also. Auf die sterblichen Überreste. Auf Prok in seinem Sarg, wo er, von Kissen gestützt und halb aufgerichtet, wie eine Wachsfigur ruht, entleert, durchgespült und mit Formaldehyd vollgepumpt, der Mann, der keinen Illusionen nachhing, der Wissenschaftler, der Empiriker, der Evolutionist, Prok. Er ist tot, tot, tot, und alles andere ist unwichtig.
    »John, machst du jetzt endlich die Tür auf, verdammt?« Iris bearbeitet den Türgriff, sie schlägt mit den Fäusten an die Türfüllung, die ich selbst abgebeizt und gefirnißt habe, und wer hat uns dieses Haus gezeigt, wer hat uns das Geld dafür geliehen? Wem haben wir alles zu verdanken, was wir haben?
    »Okay, okay!« rufe ich. Ich stehe auf, schütte den Rest dieses freudlosen Drinks hinunter. Dann schlurfe ich über den Teppich, drehe den Schlüssel und öffne die Tür.
    Da steht Iris und hat vor Ärger und Wut rote Flecken im Gesicht. In ihrem schwarzen Kleid, den schwarzen Strümpfen und Schuhen, mit Hut und Schleier tritt sie ins Zimmer. Meine Frau. Sechsunddreißig Jahre alt, die Mutter meines Sohnes, so schlank und dunkel und großäugig und schön wie an dem Tag, als ich sie kennenlernte. Und wütend. Erfüllt von einer tiefen, intensiven Wut. »Was machst du hier?« will sie wissen und drängt mich zurück, indem sie mit den Händen wie mit Windmühlenflügeln vor meinem Gesicht wedelt. »Ist dir eigentlich klar, daß wir jetzt schon zwanzig Minuten zu spät dran sind?« Und dann, nach einem Blick auf das Glas in meiner Hand: »Trinkst du etwa? Um zwei Uhr nachmittags? Wie ekelhaft! Er war nicht der liebe Gott, verstehst du?«
    Ich fühle mich wie ausgehöhlt, ein Rohr, aus dem man das Mark entfernt hat. Ich will nicht angetrieben werden – ich will in Ruhe gelassen werden. »Du hast natürlich leicht reden.«
    Ich weiß nicht, was jetzt kommt – das Ausfahren der Krallen vielleicht, ein erstes Geplänkel in einem seit nunmehr fünfzehn Jahren bestehenden Zerwürfnis, dann das Zufügen tieferer, schwärender Wunden. Ich bin bereit. Ich bin bereit zu kämpfen und ihr alles, was sie sagt, postwendend zurückzugeben, denn sie hat unrecht, und wir beide wissen das. Doch sie überrascht mich. Sie stemmt die Hände in die Hüften, läßt sie dann sinken, und ich sehe, daß sie sich die Zeit nimmt, sich zu beherrschen. »Nein, John«, sagt sie schließlich und legt die ganze Wucht dieser Jahre in den traurigen, deprimierten,

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