Dr. Stefan Frank - Halt dich an mir fest!
nehmen musste, und Isabell stieg ein. Drei Haltestellen, schon musste sie wieder aussteigen. Sie überquerte die große Kreuzung, doch statt in die Straße abzubiegen, in der ihre Mutter wohnte, ging sie ein paar Schritte weiter geradeaus und stellte sich ans Geländer der kleinen Brücke, um die Enten zu betrachten, die unbeirrt von der Hektik der großen Stadt auf der Düssel ihre Bahnen zogen.
Wie oft hatte sie als Kind mit ihrem Vater hier gestanden!
„Nicht füttern, Kleines!“, hatte er sie ermahnt. „Den armen Tieren bekommt es nicht, wenn sie Brot fressen.“
Nun, diese Zeiten waren schon lange vorbei …
Isabell seufzte, hob ihre Reisetasche wieder hoch, ging die paar Schritte zurück und bog dann in die Nebenstraße ein.
Doch je näher sie dem Haus kam, in dem ihre Mutter lebte, desto langsamer wurden ihre Schritte.
Feigling, schalt sie sich. Stell dich nicht so an. Du bist ein großes Mädchen und erwachsen. Was kann sie dir schon tun?
***
Oh mein Gott, wie alt sie geworden ist!, dachte Isabell, als ihre Mutter ihr öffnete und sie begrüßte – zwei Küsschen links, zwei rechts, natürlich nur neben ihre Wangen.
Dabei war Lydias Gesicht glatt und gestrafft, das Make-up tadellos, und jedes Härchen ihrer perfekten Frisur saß ordentlich an seinem Platz. Ihre Figur war die einer wesentlich jüngeren Frau, geformt von unendlich vielen Fitnessstunden.
Doch es waren ihre Augen, die sie verrieten, und der bittere, missmutige Zug um ihren Mund. Kein Lächeln spielte um ihre Lippen.
Während sie ihre Tochter musterte, kniff sie die Augen zusammen. Offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie sah.
„Mein Gott, wie du wieder ausschaust!“, sagte sie. „Und jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du immer noch nicht genug Geld hättest, um dir etwas Anständiges zum Anziehen zu kaufen.“
Lydia, wie sie leibt und lebt – überfließend vor Herzlichkeit!, dachte Isabell spöttisch. Nun ja, ein anderer Empfang hätte mich vermutlich ohnehin nur schockiert.
Ihre Mutter ging voraus, drehte sich aber noch einmal kurz nach ihr um.
„Du kannst deine Tasche erst einmal hier in der Diele stehen lassen und nachher nach oben ins Gästezimmer bringen“, meinte sie. „Ich denke, es ist uns beiden lieber, wenn wir so schnell wie möglich das hinter uns bringen, weshalb du hergekommen bist. Möchtest du etwas trinken? Du kannst dir in der Küche ein Glas Wasser holen.“
Wasser, das hier in dieser Wohnung auch ohne Eisschrank gefriert, spottete Isabell in Gedanken, laut sagte sie: „Nachher vielleicht. Ich habe jetzt keinen Durst.“
Zu Isabells Erstaunen ging Lydia nichts ins Wohnzimmer, sondern ins frühere Arbeitszimmer ihres Mannes. Dort nahm sie hinter dessen Schreibtisch Platz.
Aha, dachte Isabell, sie will demonstrieren, wer hier das Sagen hat. Sie bestimmt, und ich soll wie ein armer kleiner Sünder auf dem unbequemen Stühlchen sitzen.
Fast hätte sie gelacht – bis ihr plötzlich etwas auffiel, was sie zutiefst verblüffte: Lydia war nervös. Auch wenn ihre Mutter sich sorgfältig bemühte, ihre Unsicherheit zu verbergen, zitterten ihre Finger, und ihre Wangen zierten hektische Flecken.
Isabell lehnte sich gelassen zurück. Wie schön, dass die Rollen einmal vertauscht waren. Offenbar fühlte sich Lydia in der Defensive und fürchtete sich vor dem, was sie ihrer Tochter sagen musste.
Doch ihr aggressiver Ton schien dem zu widersprechen.
„Lass uns nicht lange um den heißen Brei herumreden. Also, du willst wissen, wer Johannes Baldenau ist“, begann sie und spuckte den Namen fast aus. „Erfreuen wird dich dieses Wissen nicht: Er ist dein leiblicher Vater, dein Erzeuger. Doch er hatte bereits vor deiner Geburt jegliches Recht an dir verwirkt, und deshalb wirst du die Erbschaft nicht annehmen. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“
Einen Moment lang saß Isabell da wie erstarrt, doch als ihre Mutter aufstehen wollte, kam wieder Leben in sie. Blitzschnell sprang sie auf und drückte Lydia auf den Stuhl zurück.
„Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon!“, erwiderte Isabell und blieb vor ihrer Mutter stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Du glaubst doch nicht im Ernst, du könntest mir die paar Brocken hinschmeißen, und das war’s dann. ‚Och, Schätzchen, dein Vater ist gar nicht dein Vater, aber das ist gar nicht so wichtig, deshalb brauchen wir auch nicht weiter darüber zu reden‘“, flötete sie.
Dann wurde ihre Stimme vor Zorn messerscharf.
„Mama, es geht hier
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