DrachenKind (German Edition)
nicht gefühllos. Und er war keine Ausnahme. Das Wissen um alles Leben, die Fähigkeit es in all seinem Umfang und all seiner Kraft zu erfassen, machte es ihm nicht gerade einfach zu begreifen, wofür all diese Zerstörung und Folter nötig war. Der Adler schickte ihm einen Gedanken und Eric öffnete die Augen. Er blinzelte, als der rotierende Wind ihm etwas Asche in die großen, mandelförmigen Augen trieb.
„Bitte verzeih mir, aber ich kann dich nicht von deiner Last befreien. Sie haben sich alle geirrt. Der Spiegel hat eine andere Bedeutung als bisher angenommen, ich weiß noch nicht, welche. Aber erscheint es dir nicht ungewöhnlich, dass du in deinen Träumen einen endlosen Spiegel sahst und trotzdem in das Reich dahinter gelangen konntest, noch bevor du dich selbst erkannt hast?“
Eric zögerte. Sie alle hatten sich geirrt. Nur er nicht? Er hatte sich schon Gedanken gemacht, ob sie nicht vielleicht Opfer einer Täuschung waren. Und der Zugang nicht vielleicht doch erreichbar war. Jetzt, wo ihn dieses weise Tier danach fragte, wurden ihm seine Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Spiegels und seiner bisher angenommenen Funktion bewusst. Innerlich hatte er nie geglaubt, dass es so einfach war, eine Welt zu spiegeln und sie dann zu bewohnen. Jetzt versuchte er, seine Gedanken frei zu bekommen.
„Glaubst du, die Räume, welche ich betreten habe, waren alle nur eine Illusion, eine Täuschung? Glaubst du, dass ich nicht das sein könnte, was ich bin?“
„Nein, ich bin mir sicher, dass du ein Drache bist. So sicher dass ich mein Leben für deines geben würde. Aber ich weiß, dass Irren in der Natur allen Seins liegt. In meiner und in der aller anderen. Der Spiegel ist nicht zu übersehen, eine Aufgabe wie das Abschirmen dieser Welt und der Erschaffung einer neuen für uns unzugänglichen, stünde ihm gut. Er ist gigantisch, vermittelt Wichtigkeit. Aber dass keiner ihn durchdringen kann muss ja nicht bedeuten, dass er wirklich das ist, was wir glauben. Der Herrscher ist auch nicht perfekt. Er besitzt eigentlich nur alle Möglichkeiten, die wir auch haben. Ohne Ausnahme. Was möglich ist, können theoretisch auch wir tun. Nur hat er Wege gefunden, die Möglichkeiten vor uns zu entdecken. Was ich damit sagen will ist, dass er unter Umständen keine andere Möglichkeit hat als sich auch irgendwie an das Mögliche zu halten. Und damit meine ich, dass nicht einmal er eine Welt bewohnen kann, die lediglich ein Spiegelbild ist.“
Eric nickte. Es klang einfach, aber er konnte es nur schwer begreifen, dass sich Mia, Seath und er immer nur geirrt hatten.
„Was meinst du damit, ich hätte es immer gewusst?“
„Ich glaube, dass deine Gedanken dir manchmal einen Schritt voraus sind. Und als du mir die Träume gezeigt hast habe ich bemerkt, dass du den Spiegel nicht instinktiv mit der Welt des Herrschers in Verbindung brachtest. Und das ist für deine Sinne mehr als ungewöhnlich, denn die Fähigkeit des Drachen, Leben und seine Zusammenhänge zu fühlen, machen ihn so mächtig. Du siehst nicht nur, kannst nicht nur verstehen, sondern du fühlst wirklich. Es ist schwer zu beschreiben.“
“Wie sollen wir denn den Zugang finden?“
“Sieh dir den Baum dort an.“
Er nickte nach rechts und Eric erkannte einen kahlen, total blätterlosen Baum, schwarze Rinde und ziemlich groß. Seine vielen trockenen Äste sahen fast wie ein Gewirr aus lauernden Spießen aus, die nur darauf warteten dass sich hier in dieser zerstörten Landschaft etwas darin verfangen mochte.
„Wir werden hingehen. Besser gesagt fliegen, ich versinke in diesen Überresten.“
Er flatterte los, landete kurze Zeit später auf einem der Äste. Eric ging hinterher. Die Asche war so weich und fein, dass sie kaum zu spüren war. Die Abdrücke seiner Klauen würden ewig hier zurückbleiben, fest gepresst in den Staub, wie Fußabdrücke auf dem Mond. Nicht einmal der Wind hier war an ihrer Entfernung interessiert.
Der Baum war fast so hoch wie Eric. Er war verkrüppelt, hatte viele Knoten und sein Stamm sah aus wie das Testobjekt für neue Sägen und Äxte. Es war ein fürchterlicher Anblick. Ohne die Krone hätte Eric ihn nicht für einen Baum, sondern für das Denkmal eines sehr finsteren Kultes gehalten. Der Adler saß stumm da, hatte seinen Blick auf die unendliche Tiefe der Schwärze gerichtet, die sich im Loch, im Auge des Strudels befand. Aber es gelang ihm nicht, sie vollständig zu erfassen. Er schüttelte den Kopf.
„Dieser Baum hier war der Platz, an dem
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