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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Ritters Fahrt.« (Wobei ich entschieden von mir weise, derb zu sein. Außer beim Fliesenlegen oder bei gröberen Maurerarbeiten oder so.)
    »Micki, ich will es sehen!« Mit der Zahnbürste in der Hand hüpfte ich aufgeregt auf und ab. »Los, wir fahren nach Hannover!«
    »Jetzt?« Micki sah verdattert auf seine Armbanduhr.
    »Na, klar!« Mit Schaum im Mund stand ich vor ihm. »Wenn es von Pakistan nach Hannover nur zwölf Stunden gebraucht hat, wann glaubst du, will ich es sehen? Nächste Woche?«
    »Ja, also …« Micki schabte sich den Rasierschaum von der Wange. »Eigentlich hätte ich heute ganz normal Dienst in der Firma …«
    »Heute ist kein normaler Tag!«
    »Und die Kinder?«
    »Gehen zu Oma und Opa!« Ich verschluckte mich fast an meiner Zahnpasta.
    Micki sah mich gerührt an. »Du hast recht, Florence Nightingale. Heute ist kein normaler Tag. Wir fahren!«
    Und als ich ihm stürmisch um den Hals fiel, murmelte er in meine Halsbeuge hinein: »Wo Derbheit sich mit Grazie paart …«
    »… beginnt Sybille Schnehages Fahrt«, rief ich grinsend und drückte ihm einen Pfefferminzkuss ins Gesicht.
    Natürlich hatte ich Schiss, als wir über den Krankenhausflur schlichen. So ein zerfetzter Bauch ist ja nichts, was man so vor dem Frühstück gerne besichtigt. Armer, kleiner afghanischer Patient! Würde er wach sein? Ansprechbar? Sich in Schmerzen winden? Unter Schock nach all den Strapazen? Lauter fremde Gesichter? Ohne Mama?
    Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte mit Herzklopfen ins Krankenzimmer.
    Navid Nurak saß kerzengerade in seinem Bett. Blass und verkrampft starrte er uns an.
    »Wieso kann der sitzen?«, flüsterte ich fragend über die Schulter.
    »Keine Ahnung,« gab Micki ebenso leise zurück. »Ich sehe jedenfalls weit und breit keine Wunde an seinem Bauch.«
    »He, Kleiner, was ist los? Hast du Aua am Bauch?« Ich kniete mich vor den etwa siebenjährigen Jungen und nahm seine magere, kalte Hand.
    Er starrte mich an. Klar – für den sprach ich ja auch rückwärts.
    »Guten Tag, Frau Schnehage«, ließ sich Professor Norbert Meyer vernehmen.
    »Wunderheilung?« Ich starrte ihn ehrfürchtig an.
    »Nee, Frau Schnehage. Gucken Sie mal!« Der Arzt reichte mir eine Krankenakte.
    »Richtiger Name, richtiges Alter, aber die falsche Verletzung.«
    Ich verstand gar nichts mehr. »Äh … wie?«
    »Na ja, der kleine Bursche hier hat Splitter im Bein, nicht im Bauch.«
    »Aber das Röntgenbild?«
    »Stammt wohl leider von einem anderen Kind.«
    Ich schluckte. Das war jetzt bestimmt tot. Wütend wirbelte ich zu Micki herum. »Ich glaub, mein Schwein pfeift!«
    »Sybille, bitte!« Micki kratzte sich verlegen am Kopf. »Entschuldigung, Herr Doktor, aber meine Frau ist manchmal ein wenig temperamentvoll.«
    »Das habe ich auch schon gemerkt.« Der Arzt grinste. »Schauen Sie …« Vorsichtig zog er die Schlafanzughose des kleinen Jungen hoch, und entsetzt zuckten wir zurück.
    Das Bein war von Splittern durchsetzt und deutlich verkürzt. Der ganze Unterschenkel war so dünn wie ein Fünfmarkstück.
    »Unbrauchbar?«, flüsterte ich.
    »Behandelbar«, gab der Arzt zurück. »Ein Jahr werden wir brauchen.« Er erklärte uns seinen Plan, der mehrere Knochentransplantationen vorsah. Anschließend würde er eine Orthese, also eine stiefelartige Beinstütze, anfertigen lassen und den Jungen durch eine langfristige Therapie daran gewöhnen. Sein Versprechen stand. Er machte es gratis.
    Na toll, dachte ich. EIN JAHR !
    Ratlos sah ich in das verschüchterte Kindergesicht, das genauso ratlos zurückschaute. Aber ein winziger Funke Vertrauen glomm in den dunkelbraunen Augen. Der kleine Navid war völlig verwirrt. Er war in einem sauberen (!) Krankenhaus, lag in einem sauberen (!) Bett, hatte etwas im Magen (!) und lauter besorgte, liebevolle Blicke ruhten auf ihm. Hätte er damals schon gewusst, dass er mit deutscher Unterstützung einmal selbst Arzt werden würde, wäre er wohl noch verwirrter gewesen.
    Der nächste kleine Patient war Rahim, den Khalid Wakili von der HFA eines Tages höchstpersönlich bei mir ablieferte. Der Junge hatte eine gelbe Gebetsmütze auf dem Kopf und heulte Rotz und Wasser. Kein Wunder, bestimmt hatte er schreckliche Schmerzen: Eine furchtbare Knochenentzündung fraß sich unter seinem Gipsbein immer tiefer.
    »Kleiner, ich helfe dir. Verlass dich auf mich!« Kurz entschlossen packte ich das brüllende Bündel, schnallte es in Simons Kindsitz fest und raste zum Wolfsburger Krankenhaus.

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